Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
hielten, legte sich, und die Gestalt, die zuvor ruhelos im Raum auf und ab geschritten war, nahm auf einem der zahlreichen Stühle Platz.
    Die Mission war erfolgreich gewesen.
    Sarah Kincaid war auf dem Weg nach London.

 
    3
     
     
     
    R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
    N ACHTRAG
     
    Es fiel mir nicht leicht, Kincaid Manor zu verlassen, das mir während der letzten Monate nicht nur zum Heim, sondern auch zur Zuflucht geworden war. Dennoch spürte ich, als die Kutsche die Hauptstraße erreichte und die vertrauten Gebäude hinter den Hügeln des Hochmoors verschwanden, tief in meinem Inneren eine Freiheit, die ich lange nicht mehr empfunden hatte.
    Die Kutsche der Royal Science Academy brachte uns nach Manchester, wo wir den Zug nach London bestiegen. Die Tatsache, dass Mortimer Laydon bereits ein Abteil hatte reservieren lassen, machte mir klar, dass er zu keinem Zeitpunkt daran gezweifelt hatte, dass ich einwilligen und ihn nach London begleiten würde. In mancher Hinsicht scheint mein väterlicher Freund mich besser zu kennen als ich.
    Zwei Tage dauerte die Fahrt, und je weiter wir nach Süden kamen, desto unruhiger wurde ich. Nach dem Tod meines Vaters hatte ich mir geschworen, nie mehr nach London zurückzukehren, in diese Steinwüste an der Themse, diesen Moloch, der seine eigenen Kinder verschlingt. Ich habe jedoch mit meinem Vorsatz gebrochen, und nun harre ich ungeduldig auf das, was mich in London erwarten mag…
     
     
    L ONDON
    5. N OVEMBER 1883
     
    Es war noch früh am Morgen, als ein Hansom Cab Sarah Kincaid und Mortimer Laydon vom Bahnhof King’s Cross nach Westminster fuhr. Ihr Gepäck hatten sie am Bahnhof zurückgelassen und einen Gepäckdienst damit beauftragt, es zu Laydons Haus im noblen Stadtteil Mayfair zu transportieren. Im Verkehrsgewühl, das bereits am frühen Morgen auf den Einfallstraßen herrschte, bot der leichte Hansom wesentlich bessere Aussichten, rasch voranzukommen, als ein Mehrspänner.
    Geschickt lenkte der Kutscher das schnittige Gefährt an Karren und Fuhrwerken vorbei, die auf der Gray’s Inn Lane stadteinwärts rollten. Die despektierlichen Häuserzeilen von St. Pancras und Clerkenwell huschten an der offenen Kabine vorbei, und Sarah bedachte Dr. Laydon mit einem vieldeutigen Blick.
    »Wie es scheint, hat sich in London nicht sehr viel verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Die Armen sind noch immer arm und die Reichen noch immer reich.«
    »Nun – es wäre auch äußerst verwunderlich, wenn sich dies so rasch geändert hätte, nicht wahr, mein Kind?« Der Doktor lächelte wohlwollend. »Wenn du dich so sehr um das Wohl der Bedürftigen sorgst, solltest du dich vielleicht William Booth vorstellen – ich vermute, er wäre ein Mann nach deinem Herzen.«
    »Booth? Wer ist das?«
    »Er nennt sich selbst ›General‹ und hat eine Armee von Predigern gegründet, die in Whitechapel und anderen Vierteln Betrunkenen und Taugenichtsen die frohe Botschaft verkünden.«
    »Ein Mann mit Idealen«, stellte Sarah anerkennend fest.
    »Ein Phantast«, korrigierte Laydon kopfschüttelnd. »Das einzige Evangelium, das diese Leute verstehen, wird in den Arbeitshäusern gepredigt. Sie allein sind dazu angetan, das Elend in den Straßen des East Ends zu beseitigen.«
    »Arbeitshäuser«, stieß Sarah hervor. »Es gibt sie also noch?«
    »Natürlich.« Laydon lächelte erneut. »Es sollte mich wundern, wenn diese der Gesellschaft so nützliche Einrichtungen verschwinden würden.«
    »Nützlich sind die Arbeitshäuser allenfalls denen, die sie unterhalten«, widersprach Sarah. »Schon der Name ist blanker Hohn – in Wahrheit handelt es sich um Gefängnisse, in denen Menschen, die nichts anderes verbrochen haben, als arm zu sein, unter den unwürdigsten Bedingungen hausen müssen. Familien werden ohne Rücksicht auseinander gerissen, und es gibt gerade genügend Nahrung, um niemanden sterben zu lassen – satt ist dort noch niemand geworden.«
    »Du hast zu viel Dockins gelesen, mein Kind, diesen elenden Weltverbesserer, der den lieben langen Tag nichts anderes zu tun hatte, als an unserer stolzen Nation herumzumäkeln«, konterte der Doktor säuerlich.
    »Er hieß Dickens, Onkel«, verbesserte Sarah. »Und ich denke nicht, dass es sich bei ihm um einen elenden Weltverbesserer gehandelt hat. Vielmehr um einen Mann mit weiser Voraussicht.«
    »Wie auch immer. Sieh dich nur einmal um! Dies ist London, die Metropole der Welt und strahlender Mittelpunkt eines Reiches, das selbst die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher