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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot
Autoren: Michael Peinkofer
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nicht Unrecht. Sie fürchtete sich tatsächlich davor, Kincaid Manor zu verlassen, befürchtete, dass die Geschichte sich wiederholen könnte.
    Aber das Wort, das ihren Seelenzustand mit Abstand am treffendsten kennzeichnete, war nicht Furcht oder Trauer. Es war Wut.
    Blanke, hilflose Wut, die sich auf niemand Bestimmten richtete, sondern auf alles und jeden. Auf Mortimer Laydon, der ungebeten in ihr Leben platzte und es auf den Kopf stellen wollte; auf jene Traumbilder, die sie seit dem Tod ihres Vaters verfolgten und ihr Geheimnis nicht preisgeben wollten; auf ihre eigene Feigheit und Tatenlosigkeit; und schließlich auch auf ihren Vater, weil er seinen Forschungen den Vorzug gegeben und seine Tochter auf dieser Welt allein gelassen hatte…
    Sarahs Brust bebte vor Zorn. Ihre Fäuste ballten sich, dass die Knöchel weiß hervortraten – aber schließlich nickte sie.
    »Gardiner war mein Freund, Sarah, der beste, den ich je hatte«, fuhr Mortimer Laydon tröstend fort. »Aber er war auch ein Mensch, und Menschen machen Fehler. Gardiner hat sein Leben damit zugebracht, die Vergangenheit zu erforschen, und dabei oft die Gegenwart vergessen. Als dein Pate und väterlicher Freund bitte ich dich, nicht denselben Fehler zu begehen. Die dunklen Tage liegen hinter dir, Sarah. Du musst jetzt nach vorn blicken, ungeachtet aller Dämonen, die dich verfolgen. Und das gelingt dir am besten, indem du Kincaid Manor verlässt. Ihre Majestät die Königin persönlich wünscht deine Anwesenheit in London – muss ich dich erst daran erinnern, dass dein Vater stets ein treuer Gefolgsmann der Krone gewesen ist?«
    »Nein«, erwiderte Sarah nachdenklich und schüttelte den Kopf. »Das musst du nicht, Onkel.«
    »Dann wirst du mich nach London begleiten? Königin Victoria selbst wird dafür sorgen, dass es dir an nichts mangelt und dir jede erdenkliche Unterstützung zuteil wird.«
    »Warum?«, fragte Sarah. »Was steckt hinter alldem?«
    Der Doktor blickte sich argwöhnisch um, als fürchte er, belauscht zu werden. Erst als er sich vergewissert hatte, dass keiner der Diener im Speisesaal weilte, begann er leise zu flüstern.
    »Ich kann und darf dir nicht mehr darüber sagen, Sarah – aber Ihre Majestät braucht deine Hilfe. Das britische Königshaus, so fürchte ich, wird bedroht von einer Affäre, die den Fortbestand des gesamten Empire gefährden könnte.«
    »Eine Affäre? Was für eine Affäre? Du sprichst in Rätseln.«
    »Aus gutem Grund.«
    »Und weshalb werden dabei Kenntnisse auf dem Gebiet antiker Geschichte benötigt?«
    »Warte es ab«, erwiderte Laydon geheimnisvoll und brachte Sarahs Blut damit nur noch mehr in Wallung.
    Mit manchem hatte sie gerechnet, aber sicher nicht damit, dass das Gespräch mit ihrem Paten eine solche Wendung nehmen würde – und obwohl Sarah sich geschworen hatte, dem Abenteuer den Rücken zu kehren und sich künftig mit theoretischen Studien zu beschäftigen, spürte sie, wie ihre angeborene Neugier sich regte. Natürlich schmeichelte es ihr, dass die Königin nach ihr persönlich verlangte. Noch stärker jedoch war der Forscherdrang, der in ihr erwachte. Er hatte so lange Zeit geschlafen – seit jenem Tag, an dem sie ihren Vater zur letzten Ruhe gebettet hatte…
    »Also?«, fragte Laydon herausfordernd. »Wirst du mich nach London begleiten und Ihrer Majestät helfen?«
    »Vielleicht«, erwiderte Sarah ausweichend. »Verrate mir nur noch eines.«
    »Nun?«
    »Warum ausgerechnet ich?«, wollte Sarah wissen. »In London gibt es viele Kapazitäten auf dem Gebiet der alten Geschichte, die sich sicher um die Ehre schlagen würden, der Königin zu Diensten zu sein.«
    »Weil du all diesen Kapazitäten etwas voraushast, mein Kind – etwas, das die Königin sehr zu schätzen weiß.«
    »Und was sollte das sein?«
    »Sehr einfach«, antwortete Laydon mit weisem Lächeln. »Du bist eine Frau…«
     
     
    In einem fensterlosen Raum im Herzen Londons, dessen Wände mit Holz getäfelt und dessen Tür gepolstert und mit Leder beschlagen war, sodass kein Laut aus dem Inneren nach außen drang, öffneten bebende Hände ein Kuvert.
    Nervöse Augen überflogen im Licht der Gaslampe den Wortlaut der telegraphischen Nachricht, die soeben aus Manchester eingetroffen war. Die Stille im Raum war dumpf und schwer. Nur das Ticken der großen Standuhr, das unbarmherzig darauf hinwies, wie die Zeit zerrann, war zu hören – und schließlich ein erleichtertes Aufatmen.
    Das Zittern der Hände, die das Telegramm
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