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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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stärkte das Monstrum hinter ihm. Es war der Haß auf die Bewohner Aztlans, der das Ungeheuer all die Jahre hindurch am Leben gehalten hatte. Jeder Racheschwur, den die Olmeken ausge-stoßen hatten, hatte es kräftiger gemacht, jeder Mann, der mit einem Fluch auf den Lippen gestorben war, seine Macht gemehrt. Es wurde stärker, je mehr sie es bekämpften. Und Erickson hatte dafür gesorgt, daß dieser Haß nicht erlosch.
    Und plötzlich wußte ich auch, was ich tun mußte. Es war, als erwache nun auch in mir etwas, eine Urgewalt, die von Anfang an in mir gewesen war, eine ererbte Macht, die ich nicht verstand, die aber ungeheuer war. Wie eine unsichtbare Faust schlug sie die Barriere beiseite, die meinen Geist gefangen gehalten hatte, und wuchs und wuchs und wuchs.
    Ericksons Kopf flog mit einem Ruck in die Höhe. Ich war sicher, mich nicht gerührt zu haben, aber er schien zu spüren, daß irgend etwas in mir vorging. Seine Augen weiteten sich erschrocken, als sein Blick dem meinen begegnete.
    Alles wurde unwichtig. Der tobende Mob am Ufer, der mehr und mehr Ericksons geistigem Zugriff entglitt, Setchatuatuan und seine Krieger, die Wikinger, die wie die Berserker unter den Froschkreaturen wüteten; selbst der schwarze Koloß im Wasser … es gab nur noch mich und Erickson, den Mann, dessentwegen ich hier war. Hellmarks Fluch war noch nicht erfüllt.
    Und mit einemmal spürte ich, daß ich die Macht hatte, ihn zu töten; nicht mit meinen Händen oder mit irgendeiner Waffe, sondern durch die pure Kraft meines Willens. Ein einziger Gedanke, der bloße Wunsch, und Erickson würde sterben …
    »Nein!« stöhnte Erickson. »Tu es nicht!«
    Ich atmete tief ein. Mein Geist war frei, die Wirkung von Ericksons lähmender Magie erlosch unter der ungeheuren Woge jener Urgewalt, die wie ein Taifun aus meiner Seele emporbrodelte.
    Aber ich durfte Erickson nicht töten. Was ich zu Lasse Rotbart gesagt hatte, war keine leere Phrase gewesen. Ich konnte kein menschliches Leben zerstören. Nicht einmal das meiner Feinde.
    Aber es gab etwas anderes, was ich tun konnte. Plötzlich war alles ganz einfach. Und Erickson selbst hatte mir gesagt, wie.
    Mit einem gellenden Schrei wandte ich mich um und riß die Arme in die Höhe.
    »Hört auf!«
    Der Klang meiner Stimme hallte wie ein Peitschenhieb in der Grotte wider, aber stärker, tausendmal stärker, wirkte die Macht des suggestiven Befehles, der sie begleitete. Es war ein geistiger Hieb von ungeheurer Macht, etwas, das stärker war als Ericksons Bann, stärker als die uralte finstere Magie, mit deren Hilfe er den Willen seiner Opfer gebrochen hatte, stärker selbst als die finstere Aura des schwarzen Gottes im Wasser. Fast mühelos zerbrach ich die geistigen Fesseln, an denen Erickson geduldig und jahrelang gewoben hatte.
    Und der Kampf hörte auf.
    Die Männer, die gerade noch auf Leben und Tod miteinander gerungen hatten, erstarrten mitten in der Bewegung, und plötzlich wurde es still, unheimlich still. Wo ich vor Augenblicken noch Haß oder Blutdurst oder pure Panik in den Augen der Krieger gesehen hatte, erschien ein Ausdruck tiefer, mit nur langsam erwachendem Schrecken gepaarter Verwirrung. Vielleicht zum erstenmal seit Jahren waren diese Männer frei. Ericksons Bann war zerbrochen. Für immer.

    Ganz langsam wandte ich mich um, nahm die Arme wieder herunter und starrte Erickson an. Wir standen noch immer nahe am Wasser, nur wenige Schritte voneinander entfernt, reglos, zwei ungleiche Gegner, so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein konnten, und uns doch auf entsetzliche Weise ähnlich, voll helloderndem Zorn der eine, voll finsterem Haß der andere. Die Macht über Leben und Tod war noch immer in mir, und ein dunkler Teil meiner Seele drängte mich, Erickson zu vernichten, ihn zu töten, all den Zorn und all die Wut und den Schmerz der letzten Tage auf ihn zu entladen.
    Und ich konnte es noch immer nicht.
    In Ericksons Augen blitzte es auf, als er begriff, was in mir vorging. Er hatte Angst, aber noch gab er nicht auf. »Du Narr!« flüsterte er. »Du hast alles zerstört. Alles, was ich aufgebaut habe. Mein Lebenswerk. Die Arbeit eines Jahr-zehntes! Du verdammter, elender Narr!«
    Mein Blick streifte den schwarzen Koloß. Das Ungeheuer war mir nahe, nahe genug, mich mit einer flüchtigen Bewegung seiner entsetzlichen Tentakel zu ergreifen und in die Tiefe zu zerren. Aber es rührte sich nicht. Seine gigantischen gelben Augen blickten kalt auf mich und Erickson, und
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