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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Gerechtigkeit, räche diesen Verrat! Sie sollen bezahlen für ihre Schandtat, ein Leben gegen hundert! Leif Erickson, ich … verfluche … dich …«
    Niemand hörte die Worte, und als Hellmarks Arme niedersan-ken und er nach vorne auf die Schiffsplanken stürzte, war er bereits tot. Nur über ihm, weit über ihm am Himmel ballten sich plötzlich schwarze Gewitterwolken zusammen, und als der erste Blitz niederfuhr, sah die größte von ihnen wie ein gewaltiger, nachtschwarzer Rabe aus.
    Aber auch das bemerkte niemand. Und als die kleine Rotte wenige Stunden später die Küste erreichte und die ersten Europäer den Fuß auf einen Kontinent setzten, der später,
    sehr viel später, noch einmal entdeckt und Amerika getauft werden sollte, hatten sie seinen Fluch schon fast vergessen.
    Aber die Götter vergessen niemals, und für sie sind hundert Jahre weniger als ein Augenblick. Und bis sich Hellmarks Worte auf grausame Weise erfüllen würden, sollten noch mehr als eintausend Jahre vergehen …

    »Die nächste Ausfahrt ist es.« Beckers Stimme riß mich abrupt aus dem Schlaf, doch mein Traum folgte mir in die Wirklichkeit wie ein Schatten der Nacht, der rasch noch durch eine Tür geschlüpft kam, ehe sie vollends zugeworfen wurde. Ich sah Leif Erickson noch so deutlich vor mir, daß ich Mühe hatte, das Gesicht Beckers als das wahrzunehmen, was es war: ein schmales, übermüdet wirkendes europäisches Gesicht mit lockigem, dunklem Haar und weichen Augen, das keinerlei Ähnlichkeit mit dem Ericksons hatte. Für eine Sekunde glaubte ich sogar noch den gräßlichen Schmerz zu spüren, der Hellmark zu Boden gezwungen hatte, als der tödliche Pfeil in seine Brust gedrungen war …
    Dann verblaßte die Vision langsam, ich wachte endgültig auf und verscheuchte die beunruhigenden Bilder. Es war nicht das erstemal, daß ich diesen verrückten Traum träumte.
    Er war der Grund, warum ich hier war.
    Ich blinzelte müde, fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen und warf einen flüchtigen Blick auf den Tachometer, ehe ich mich wieder auf die Straße konzentrierte.
    Wären da nicht die Zahlen auf dem Tachometer des muse-umsreifen Dodge-Kombi gewesen, hätte ich kaum geglaubt, daß wir heute schon nahezu tausend Meilen zurückgelegt hatten. Seit wir vor drei Stunden die mexikanische Grenze passiert hatten, war die Straße immer schlechter geworden.
    Doch wenigstens war die Landschaft nicht mehr ganz so eintönig wie auf der langen Fahrt durch Texas.
    Beckers Augen waren rot und erinnerten an eine übermüdete Eule. »Soll ich Sie ablösen?« fragte ich.
    Becker schüttelte den Kopf, wie bisher jedesmal, wenn ich diese Frage gestellt hatte. Und ich hatte sie oft gestellt, im Laufe der letzten drei Tage. »Nein«, sagte er. »Es ist nicht mehr weit. Vom Highway aus keine zehn Meilen mehr. Bei der nächsten Ausfahrt fahren wir ab.«
    Ich schwieg dazu. Ich konnte weder eine Ausfahrt entdecken, noch verdiente meines Erachtens nach die Straße die Bezeichnung Highway. Aber dies hier war nicht England, sondern Mexiko, und hier war einiges anders; nicht nur die Sprache. Und ich war viel zu müde, um mich auf Haarspalte-reien einzulassen.
    Ich lehnte mich zurück, bettete den Kopf an der Rückenleh-ne und blickte aus dem Seitenfenster. Riesige Maisfelder,oder was immer es sein mochte, was hier in endlosen Reihen angepflanzt wurde, zogen mit monotoner Gleichförmigkeit vorbei, und der Anblick machte mich schon wieder müde.
    Dabei hatte ich einen guten Teil der sechzehn Stunden, die die heutige Etappe gedauert hatte, geschlafen.
    »Wir hätten doch fliegen sollen«, murmelte ich. Becker lächelte matt und versuchte, in eine bequemere Stellung zu rutschen. »Die Idee kommt ein bißchen spät, nicht?« fragte er. Ich antwortete gar nicht. Auf dem Flug von London nach New York war es mir wie eine fantastische Idee vorgekommen, Havillands Angebot anzunehmen und mich von seinem Assistenten zu ihm bringen zu lassen; auch wenn es sich um eine Entfernung handelte, die einem Europäer einen Schauer über den Rücken gejagt hätte. Aber Amerika war eben nicht nur das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern auch der fast unbegrenzten Entfernungen. Eine Fahrt durch die halben USA und halb Mexiko, ein richtiges kleines Abenteuer also. Aber das einzige, was abenteuerlich war, waren die Straßen hier, und dieser fahrende Folterstuhl, den Becker in einem Anfall von Größenwahn als Auto bezeichnet hatte. Ich hatte meinen Entschluß schon längst
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