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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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diese Stadt, die alle Kraft aus mir heraussaugte, mit jedem Schritt, den ich mich ihrem Herz näherte, ein bißchen mehr.
    Hinter mir kroch Setchatuatuan aus dem Schacht und ließ sich erschöpft neben mich sinken. Er sagte kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Aztlan erstreckte sich in seiner ganzen Größe und Schrecklichkeit vor uns. Von der Stelle aus, an der wir eingedrungen waren, konnte man die gesamte Stadt überblicken, so, als wäre diese Bresche in der Mauer zu keinem anderen Zweck gerade hier geschlagen worden.
    Die Stadt war ein Monstrum. Sie war schwarz, ein Schwarz von einer Tiefe und Intensität, wie ich es nie zuvor gesehen hatte, und nichts in ihr glich irgend etwas Vertrau-tem oder auch nur vage Bekanntem. Es bereitete mir fast körperliche Schmerzen, sie auch nur anzublicken.
    »Wachen«, sagte Setchatuatuan leise. Seine Hand wies auf eine Stelle gut hundert Yards vor uns, und auch mein Blick glitt über die einwärts geneigten Mauern. Drei, vier Männer patrouillierten auf den überdachten Wehrgängen diesseits der Zinnen, und hinter den schmalen Fenstern der quadrati-schen Türme flackerte roter Feuerschein. Ich konnte die Gestalten nicht genau erkennen, sie waren zu weit entfernt, aber irgend etwas daran beunruhigte mich. Ich war nicht sicher, daß es sich wirklich um Menschen handelte.
    Die Mauer war nur schwach besetzt, aber es war auch nicht notwendig, mehr Männer zum Schutz der Stadt abzustellen, dachte ich. Aztlan war unbesiegbar. Selbst wenn Erickson uns nicht verraten hatte, würde es zu einem unbeschreiblichen Blutbad kommen, sollte Setchatuatuans Armee wirklich so wahnsinnig sein, diese Mauern stürmen zu wollen.
    Setchatuatuan schien ähnliches durch den Kopf zu gehen, denn auf seinem Gesicht machte sich Betroffenheit breit.
    Doch bevor er oder ich etwas sagen konnte, erklang irgendwo unter uns ein dumpfer, dröhnender Gong.
    Das Geräusch schien die Stadt in ihren Grundfesten erzittern zu lassen, steigerte sich zu einem ungeheuren Orkan aus Lärm und brach unvermittelt ab. Für einen endlosen Moment schien die Zeit stillzustehen,
    »Was bedeutet das?« fragte Setchatuatuan.
    Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Sicher nichts Gutes«, murmelte ich.
    »Vielleicht die Ankunft eures Heeres.«
    Setchatuatuan schüttelte den Kopf. »Es ist zu früh. Sie können noch nicht hier sein. Es … es muß etwas mit … Erickson zu tun haben.« Er stand auf, warf noch einmal einen sichernden Blick zu der Mauerkrone über uns und den Wächtern und sah sich dann suchend am Boden um. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er sich wieder aufrichtete und mich aufgeregt zu sich heranwinkte.
    »Spuren!« rief er. »Das sind frische Fußspuren! Sie müssen von Erickson stammen. Kommt!«

    Ich blickte neugierig auf die Stelle, auf die sein ausgestreckter Zeigefinger wies, aber ich sah rein gar nichts. Trotzdem folgte ich ihm, ebenso wie die vier Wikinger und das knappe Dutzend Olmeken-Krieger, die uns begleiteten. Eine Zeitlang bewegten wir uns parallel zur Mauer, dann blieb Setchatuatuan plötzlich wieder stehen und deutete auf eine kaum sichtbare Einkerbung im Boden. »Dort!« Als ich genauer hinsah, erkannte ich, daß es nicht einfach ein Riß im Stein war, sondern eine metallene Klappe, die so perfekt in den Boden eingepaßt war, daß nur jemand mit den scharfen Augen eines Setchatuatuan eine Chance hatte, sie zu entdek-ken.
    Der Olmeke ließ sich in die Hocke sinken, zog einen Dolch aus dem Gürtel und zwängte die Klinge in den Spalt. Seine Muskeln spannten sich. Im ersten Moment dachte ich, die Klinge des Obsidianmessers würde einfach abbrechen, aber dann schwang die Klappe auf; rasch und ohne das geringste Geräusch, als wären die Scharniere erst vor kurzem frisch geölt worden.
    Ein Schwall abgestandener, feuchtkalter Luft schlug uns entgegen. Die obersten drei oder vier Stufen einer roh in den lehmigen Boden gegrabenen Treppe waren zu sehen und ein blasses, sonderbar unangenehmes grünliches Licht, das aus der Tiefe emporstieg und in ständiger, wabernder Bewegung zu sein schien.
    Und Laute drangen zu uns empor …
    Sie waren so schwach, daß ich sie im allerersten Moment mehr erahnte als wirklich hörte, aber als ich mich konzentrierte und einen Augenblick gebannt lauschte, begannen sie rasch eine beunruhigende Realität anzunehmen. Es waren Geräusche, wie ich sie nie zuvor gehört hatte und die doch erschreckend vertraut klangen: ein unmenschliches Schreien und Wimmern, ein Jammern
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