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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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erwischen. Ohne Erfolg.
    Der Zackenbarsch leistet mir Gesellschaft.
    Das ist fast sein echter Name, Zackenbarsch. Olivier Zackenbart, so heißt er. Aber wenn man seine Glupschaugen und seine dicken rosafarbenen Lippen sieht, wobei die untere leicht schmollend hervorsteht, fragt man sich, ob Namen nicht doch eine gewisse Auswirkung auf das Äußere haben.
    Er setzt sich zwei Meter neben mir auf die Böschung, den fetten Bauch bequem auf die Knie gestützt, die Schirmmütze fest auf dem Kopf und sein Sixpack Kronenbourg griffbereit. Ich höre nur das Zisch , wenn er eine neue Dose aufmacht, dann dieses Gurgeln, wenn er den Inhalt in sich hineinkippt. Wie ein Küchenabfluss. Und zum Schluss sein Zungenschnalzen und das kleine Ahhh! Und sofort danach das Platsch der Dose, wenn er sie mitten in den Kanal schmeißt.
    Es ist einfach eines Morgens über mich gekommen, ohne vernünftigen Grund. Ich bin aufgestanden und hätte kotzen können, und ich wusste, das Beste wäre, sich wieder ins Bett zu hauen. Seitdem bin ich so drauf, außer wenn ich Pläne schmiede, um mein Schicksal zu ändern. Aber sogar das habe ich inzwischen satt. Am erträglichsten ist es, wenn ich meinen Kopf in einen nebelartigen Zustand versetze und einfach aufhöre zu grübeln. Dann sage ich gar nichts mehr. So bin ich, ich behalte meine Freuden und meine Leiden für mich wie ein mieser Egoist.
    Und ich habe lieber mit Leuten zu tun, die das genauso machen. Schwätzer kann ich nicht leiden.
    Deshalb habe ich solchen Respekt vor dem Zackenbarsch: Wenn du still bist, versucht er nicht, dir deine ganze Lebensgeschichte aus der Nase zu ziehen, um rauszufinden, wieso und warum. Er macht nicht einen auf Seelenklempner.
    Wenn ich vor mich hin seufze, sagt er nicht gleich: »Hey, Cédric? Geht’s dir nicht gut? Willst du drüber reden?«
    Und wenn ich anfangen würde zu heulen – nur mal angenommen –, würde er kein Wort darüber verlieren und mir höchstens sein Taschentuch hinhalten, aber ich würde einen Teufel tun, es zu nehmen.
    An meinem Kummer will ich gern verrecken, aber sicher nicht an einer dämlichen Bazille.
    In dem Moment schaute ich also zu, wie das Wasser vorbeifloss. Sonst nichts. Der Zackenbarsch murmelte neben mir vor sich hin. Er rechnete weiter aus, wie viele Dosen er noch bräuchte, bis seine Kronenbourg-Insel eines Tages aus dem Wasser aufragen würde.
    Ich habe ihn seinen Träumen überlassen. Träumen kostet nichts und tut niemandem weh.
    Gegen sechs Uhr hat er schließlich geseufzt: »Es ist ein bisschen öde hier, oder?«
    Das war keine richtige Frage, auch keine an mich persönlich gerichtete Bemerkung, nur eine allgemeine Feststellung. Ich musste darauf weder antworten noch rumphilosophieren.
    Aus Höflichkeit habe ich gesagt: »Ist schon so.«
    Er ist aufgestanden, mit knackenden Knien, und hat dem Karton, in dem er seine Dosen hergeschafft hatte, einen Tritt versetzt. Platsch . Wieder ein bisschen mehr Müll im Kanal.
    Er hat gesagt: »Dann will ich mal einen heben gehen!«
    Die Biere zählen nicht, die sind Arbeit, kein Vergnügen.
    Und auch schon vor dem Staudammprojekt pflegte er immer zu sagen: »Bier, das ist kein Sprit.«
    Sprit ist für ihn nur, was mindestens zwölf Prozent hat. Alles andere dient der reinen Flüssigkeitszufuhr.
    Der Zackenbarsch ist gewissenhaft, er befolgt brav den Rat, der bei jeder Hitzewelle alten Leuten gegeben wird: Mindestens zwei Liter am Tag. Was gut ist für die Senioren, ist auch gut für ihn. Er hat recht: Wir sind alle zukünftige Alte, das sollte man nicht vergessen. Wobei, wenn man schon so rechnet, sind wir auch alle zukünftige Tote. Also was soll’s.
    Da er immer noch vor mir stand und nicht aufhörte, mich anzustarren, habe ich kapiert, dass er erwartete, ich würde mitkommen. Ich habe mich nicht gerührt, sondern nur »Tschüss!«gesagt, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Bleibst du da?«
    »Ja, noch keine Lust heimzugehen.«
    »…«
    »Aber du kannst ruhig gehen!«
    »Sicher?«
    »Sicher.«
    Er tänzelte auf der Stelle wie ein Bär, von einer Tatze auf die andere. Ich hörte, wie es in seinem Kopf rumorte: Lasse ich ihn allein, oder lasse ich ihn nicht allein?
    Ich habe laut verkündet: »Verdammt, alles in Ordnung! Mir passiert schon nichts! Spiel nicht das Kindermädchen!«
    Der Zackenbarsch hat noch eine Minute lang gezögert.
    Aber da es lebenswichtige Dinge gibt, hat der Durst gewonnen, und er hat tschüss gesagt.
    Ich habe ihm nachgeschaut, wie er auf dem Treidelweg
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