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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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ein schöner Anfang.

 
    A m letzten Abend, als Cédric und Olivier davon sprachen, dass sie zurückkommen würden, um eine Weile auf dem Hof zu bleiben, wollte Roswell wissen, was sie hier für eine Arbeit machen würden.
    Sie haben sich ein wenig unentschlossen angeschaut. »Na ja, also …«, hat Cédric angesetzt.
    »Sie werden Männer für alles sein! Und da hier alles zu tun ist, trifft sich das gut«, hat Clo lächelnd eingeworfen.
    Roswell hat sich schlappgelacht. Er hat sich in die Formulierung eines komplizierten Satzes gestürzt, der mich auch zum Lachen brachte.
    »Übersetzt du für uns?«, hat Clo gebeten.
    »Gérard möchte wissen, ob du nicht zufällig auch einen Mann für nichts brauchen könntest.«
    »Mal sehen … Was hat er denn für nichtsnutzige Talente?«
    »Er kann Gedichte auswendig«, habe ich gesagt.
    »Er kann grottenfalsch singen«, hat Cédric hinzugefügt.
    »Er zähmt wilde, gefährliche Hunde«, hat Olivier weitergemacht.
    Und ich habe die Liste vervollständigt, indem ich sagte, er könnte auch sehr gut Popcorn machen und Küchen in Brand setzen.
    Roswell hat Clo sein schönstes Lächeln geschenkt.
    »Na dann, in der Tat …«, hat Clo nachdenklich gemeint. »Ich muss zugeben, dass wir hier wirklich niemand anderen haben, der das alles kann!«
    Sie hat sich zu Roswell umgedreht und ihm in die Augen geschaut, mit dieser schroffen Sanftheit, die nur Clo besitzt.
    Ganz behutsam hat sie gefragt: »Du möchtest also auch wieder zurückkommen und hier leben, ja?«
    Roswell hat losgeprustet und geantwortet: »Mmja.«

 
    M arlène war braun gebrannt, Bertrand weniger blass als sonst. Die Woche in den Bergen hatte ihnen offensichtlich gutgetan. Sie zeigten uns stolz ihre Urlaubsfotos.
    Weil schönes Wetter war, haben wir draußen Mittag gegessen. Ich habe Marlène und Bertrand von unserer Woche erzählt und von den gemeinsamen Plänen. Roswell saß am Tisch, eine Serviette um den Hals und seine rote Schirmmütze auf dem Kopf. Er hat seine Nudeln ohne größeren Zwischenfall gegessen.
    Bertrand formte wieder Würfel aus Brotkrumen und blieb seinem Prinzip treu, nicht mehr als irgend nötig in Erscheinung zu treten.
    Marlène wackelte unruhig mit dem Kopf, wie diese kleinen Hunde, die auf der Heckablage der Autos saßen, als ich noch klein war. Sie suchte krampfhaft nach Gegenargumenten.
    Ich hatte Roswell ohne ihre Erlaubnis mitgenommen, weit weg, eine Woche lang. Und er war gesund und glücklich zurückgekehrt. Das war es wahrscheinlich, was sie mir am meisten übelnahm. Und jetzt fing Roswell auch noch an, davon zu reden, weggehen und sein eigenes Leben leben zu wollen, das war doch wirklich der Gipfel! Ganz zu schweigen von der Behindertenbeihilfe, die dann wegfallen würde, woran sie natürlich sofort dachte.
    Sie schimpfte vor sich hin, während sie den Tisch abräumte. Jedes Mal, wenn sie zurückkam, warf sie Roswell vernichtende Blicke zu.
    »Hat er es bei uns vielleicht nicht gut? Hat er nicht alles, was er braucht? Kümmere ich mich etwa nicht um ihn?«
    Sie untermalte ihre Fragen mit großen Gesten, auf die Gefahr hin, ihr edles Melaminporzellan zu zertrümmern.
    Roswell sackte immer mehr in sich zusammen und schaute sie mit seinem Rette-sich-wer-kann-Blick an.
    Bertrand versuchte vergebens, die Lage zu beruhigen. »Das hat er doch nicht gesagt, Lénou. Er will lernen, seine eigenen Sachen zu machen. Eine Arbeit, eine Beschäftigung, was weiß ich. Er ist noch jung, verstehst du?«
    »Misch du dich da nicht ein!«
    Bertrand zuckte zusammen. »Na, also, hör mal, er ist mein Bruder …«
    »Gieß nicht noch Öl ins Feuer! Ich brauche dich nicht, um mich aufzuregen, das kann ich ganz allein!«
    Damit sie nicht vollends in die Luft ging, habe ich es mit ein paar neuen Argumenten versucht: »Du hättest weniger Arbeit, Marlène. Und mehr Zeit für dich, für deine Bilder. Außerdem könntest du zwei Zimmer vermieten, das bringt mehr als eins.«
    Sie beruhigte sich mit einem Schlag. »Ach, das stimmt eigentlich«, hat sie gemeint. »Keine schlechte Idee!« Sie hat kurz gelächelt, sich aber ruck, zuck wieder zusammengenommen. In Geschäftsdingen ist sie die Gerissenheit in Person. Es muss immer so aussehen, als würde man sich die Leber aus dem Leib reißen.
    Sie hat Roswell plötzlich ganz gerührt angeschaut. Man konnte zuschauen, wie sie die Rolle wechselte, eine echte Schauspielerin. Mit tiefem Bedauern in der Stimme sagte sie: »Es fällt mir einfach schwer, ihn weggehen zu
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