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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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machte und seine Umgebung neu gestaltete, indem er in die Suppe nieste oder seine Spaghetti durch die Luft hustete.
    Sie giftete Bertrand nicht mehr an und auch sonst niemanden. Sie hatte ständig ein Lächeln auf den Lippen und einen verträumten, fast mystischen Blick. Sie wirkte schwerelos, berührte kaum mehr den Boden. Sie war der Frieden und das Glück in Person.
    Ich konnte regelrecht zusehen, wie Bertrand sich aufrichtete, sich entfaltete, seinen Brustkorb öffnete und aufzublühen begann. Sie nannte ihn Schätzchen, und er schnurrte, ließ sein Brot in Ruhe, hörte auf, wie besessen Würfel daraus zu kneten.
    Und ich sagte mir, dass es doch sehr wenig braucht, damit Leute anfangen zu leben.

 
    A n einem Samstagmorgen sind Marlène und Bertrand abgereist, den Renault vollgestopft bis oben hin, den Dachgepäckträger beladen wie ein Kamel und mit einer Plane verschnürt. Fast hätten sie auch ihre Matratze und den Campingtisch mitgenommen. Sie sahen aus wie bosnische Flüchtlinge.
    Marlène, frisch blondiert bis zu den Haarwurzeln, die Brauen gezupft und die Nägel lackiert, hat mir einen Make-up-klebrigen Kuss auf die Wange gedrückt.
    Sie hat mir »Danke!« ins Ohr geflüstert. Manchmal ist sie schon erstaunlich.
    Dann ist sie zu Roswell gegangen, um ihm auch einen Kuss zu geben, aber der schützte sich mit beiden Händen.
    Eine Stunde früher hatte sie sich von Tobby verabschiedet, als Madame Aulincourt kam, um ihn abzuholen. Roswell war mit mir oben. Die schrille Stimme von Marlène, die in der Küche mit Madame Aulincourt Kaffee trank, drang bis in sein Zimmer rauf.
    »Mein Baby, mein Dickerchen, bleibt er ganz allein hier, ohne seine Mama, der arme Tobby? Madame Aulincourt ist sehr nett, du wirst sehen! Stimmt’s, Madame Aulincourt, Sie sind doch sehr nett? Aaah, siehst du?«
    Roswell schmollte, es gefiel ihm nicht, dass der Hund wegging. Er mag Tobby, und Tobby mag ihn.
    Bevor sie wirklich abreisten, kam auch Bertrand, um Roswell einen Kuss zu geben. Er sagte ein paar Worte zu ihm, die ich nicht verstehen konnte. Roswell nickte mit seinem großen Kopf, die Hand zwischen denen seines Bruders. Ich sah zum ersten Mal, dass Bertrand sich ihm freundlich zuwandte, und als ich sie so beobachtete, wurde mir klar, dass die beiden etwas Starkes verband. Ich konnte es an Roswells strahlenden Augen sehen, an seinem Breitwandlächeln.
    Dann ist Bertrand zu mir gekommen und hat mir die Hand gedrückt, auf seine unbeholfene, etwas befangene Art.
    »Äh … tja, Alex … äh, ich wollte noch sagen …«
    Wie üblich schien er irgendetwas Wesentliches offenbaren zu wollen, einen wichtigen Rat, einen letzten Willen. Eine Art Testament.
    »Also, was ist jetzt, gehen wir oder schlagen wir hier Wurzeln?«, hat Marlène gemeckert, die schon angeschnallt im Auto saß, Ellenbogen aufs offene Fenster gestützt.
    »Ja, schon gut, ich komme … Äh, Alex, wenn du was brauchst, dann …«
    »Wenn sie was braucht, ruft sie Madame Aulincourt an, das weiß sie schon«, hat Marlène ihm das Wort abgeschnitten. »Also, Alex, nichts für ungut, aber verwickle ihn mir jetzt nicht in ein Gespräch, sonst stehen wir am Sankt-Nimmerleins-Tag noch hier.«
    Ich habe Bertrand die Hand gedrückt und ihm eine gute Woche gewünscht. Er hat undeutlich gelächelt. Vielleicht etwas ironisch, vielleicht auch nicht.
    Marlène blickte starr in Richtung Gartentor und Straße und trommelte mit den Fingern auf dem Fensterrahmen. Sie schaute nicht einmal mehr zu uns rüber, sie hatte uns schon ausgeblendet.
    Als Bertrand sich ans Steuer setzte, habe ich gehört, wie sie mit essigsaurer Stimme zu ihm sagte: »Das wurde aber auch Zeit!«
    Der Renault fuhr in einer riesigen Abgaswolke davon.
    Roswell, der draußen in seinem Sessel saß, wedelte zum Abschied heftig mit den Armen.
    Ich habe ihnen nachgeschaut und bin dann reingegangen, um uns Kaffee zu kochen.
    Ich habe die SMS abgeschickt.
    Eine halbe Stunde später waren die Cowboys da.

 
    W ir haben von weitem ein Motorengeräusch gehört, das allmählich näher kam.
    Roswell war im Schatten des kleinen Sonnenschirms eingenickt. Er wachte plötzlich auf und schaute zu, wie das Gespann in die Allee einbog und ganz langsam auf uns zufuhr. Er sah völlig verdattert aus.
    Seine Hände klammerten sich an die Sessellehnen, er stieß mit dem Kopf wild in die Luft und fing an, sich einen Finger nach dem anderen in den Mund zu stecken.
    Olivier schaltete den Motor aus. Cédric und er stiegen ab.
    »Na, bist
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