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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition)
Autoren: Cédric Villani
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Kapitel 1
    Lyon, 23. März 2008
    Ein Sonntag um 13 Uhr; das Labor wäre menschenleer, wenn es nicht zwei geschäftige Mathematiker gäbe. Eine vertrauliche Verabredung für eine ungestörte Arbeitssitzung in dem Büro, das ich seit acht Jahren im dritten Stock der École Normale Supérieure von Lyon innehabe.
    Auf einem bequemen Sessel sitzend, klopfe ich energisch auf den großen Schreibtisch, wobei ich die Finger wie Spinnenbeine auseinanderspreize, wie es mir mein Klavierlehrer einst beigebracht hat.
    Zu meiner Linken befindet sich auf einem extra Tisch ein Computer. Zu meiner Rechten steht ein Schrank, der ein paar hundert Bücher über Mathematik und Physik beherbergt. Hinter mir befinden sich, sorgfältig auf langen Regalen aufgereiht, Abertausende von Aufsatzseiten, die in einer altehrwürdigen Zeit raubkopiert wurden, in der die wissenschaftlichen Zeitschriften noch kein elektronisches Format hatten; außerdem Reproduktionen zahlreicher Forschungsarbeiten, die in einer Zeit raubkopiert wurden, in der mein Gehalt es mir nicht gestattete, meinen Durst nach Büchern zu stillen. Es gibt auch einen guten Meter Entwürfe, die während vieler Jahre akribisch archiviert wurden; und ebenso viele handschriftliche Notizen, Zeugen unzähliger Stunden, die ich mit dem Anhören von Forschungsberichten verbracht habe. Auf dem Schreibtisch vor mir steht Gaspard, mein Notebook, benannt zu Ehren von Gaspard Monge, dem großen Mathematiker der Revolutionszeit; und ein Stapel Blätter, die mit mathematischen Symbolen bedeckt sind, welche in allen acht Winkeln der Welt hingekritzelt und für diese Gelegenheit zusammengestellt wurden.
    Mein Mitstreiter, Clément Mouhot, steht mit funkelnden Augen und einem Stift in der Hand neben der großen weißen Tafel, die die gesamte Wand vor mir bedeckt.
    – Nun sag’ schon, warum ich kommen sollte, worum geht es bei deinem Projekt? In deiner Mail hast du ja nicht allzu viele Einzelheiten erwähnt …
    – Ich fange wieder mit meinem alten Dämon an, natürlich ist das sehr ehrgeizig, nämlich die Regularität für die inhomogene Boltzmann-Gleichung.
    – Bedingte Regularität? Du meinst, modulo minimaler Regularitätsschranken?
    – Nein, unbedingte.
    – Sapperlot! Nicht in einem störungstheoretischen Rahmen? Glaubst du, dass wir dafür schon bereit sind?
    – Ja, ich habe wieder damit angefangen, ich habe recht gute Fortschritte gemacht, ich habe zwar einige Ideen, aber hier komme ich nicht weiter. Ich habe die Schwierigkeit anhand mehrerer vereinfachter Modelle analysiert, aber selbst das einfachste funktioniert nicht so richtig. Ich habe geglaubt, die Sache mit einer Art Maximumprinzip in den Griff zu bekommen, aber nein, alles brach zusammen. Ich muss darüber reden.
    – Also los, ich höre dir zu.
    Meine Ausführungen ziehen sich in die Länge: das Ergebnis, das mir vorschwebt, meine Ansätze, die verschiedenen Teile, die ich nicht miteinander verknüpfen kann, und das logische Rätsel, das sich nicht auflöst, die Boltzmann-Gleichung, die widerspenstig bleibt.
    Die Boltzmann-Gleichung, die schönste Gleichung der Welt, wie ich zu einem Journalisten gesagt habe! Ich bin in sie hineingestürzt, als ich noch klein war, d.h. während meiner Dissertation, und ich habe sämtliche Aspekte von ihr untersucht. In der Boltzmann-Gleichung findet man alles: die statistische Physik, den Zeitpfeil, die Mechanik der Fluiden, die Wahrscheinlichkeitstheorie, die Informationstheorie, die Fourieranalyse … Manche sagen, dass niemand auf der Welt besser als ich die mathematische Welt kennt, die von dieser Gleichung erzeugt wird.
    Vor sieben Jahren habe ich Clément in dieses geheimnisvolle Universum eingeführt, als er unter meiner Betreuung seine Dissertation begonnen hat. Clément hat wissbegierig gelernt, er ist gewiss der Einzige, der alle meine Arbeiten zur Boltzmann-Gleichung gelesen hat; jetzt ist er ein angesehener, selbständiger, brillanter und begeisterter Forscher.
    Vor sieben Jahren habe ich ihm in den Sattel geholfen, heute brauche ich seine Hilfe. Ich habe mit einem überaus schwierigen Problem zu tun, und ganz alleine schaffe ich es nicht; zumindest muss ich meine Anstrengungen jemandem erzählen können, der die Theorie durch und durch kennt.
    – Nehmen wir an, dass streifende Kollisionen vorhanden sind. Einverstanden? Ein Modell ohne Cut-off. Dann verhält sich die Gleichung wie eine fraktionäre Diffusion, die zwar degeneriert ist, aber doch eine Diffusion, und
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