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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Abfluss auswechselt, kann er nicht widerstehen: »Dein Vater wäre sicher stolz, wenn er dich hier sehen könnte!«
    Olivier hat gekichert: »Das musst du gerade sagen! Warst du es nicht, den ich vorhin mit einer Maurerkelle zur Nachbarin habe laufen sehen?«
    »Ich habe ihr eine Ritze zugegipst, das ist alles.«
    »So nennst du das also: Ritzen zugipsen! Alles klar. Sehr poetisch.«
    Cédric hat sich unter irgendeinem Vorwand vom Acker gemacht. Olivier hat mir mit Verschwörermiene zugelächelt.
    Cédrics Herz brütet vielleicht etwas aus. Aber ich spüre, dass er empfindlich ist, er ist noch nicht bereit, darüber zu reden oder auch nur daran zu glauben. Er braucht Zeit, Ruhe und den Schutz des Geheimnisses.
    Olivier ist aufgeblüht, und meine wunderbare Clo hat einen rosigen Teint.
    Cédric konnte am Anfang ohne den Lärm der Motorräder und Autos gar nicht einschlafen. Zu viel Ruhe beunruhigt. Die ersten drei Tage tauchte er gegen zehn Uhr morgens in der Küche auf, mit Ringen unter den Augen und wächsernem Teint. Dann gewöhnte er sich allmählich daran.
    Und er machte eine überraschende Entdeckung: Es bereitet ihm Spaß, sich um die Ziegen zu kümmern.
    Clo hat ihm vorgeschlagen, es mal zu probieren, einfach so. Er hat sich nicht getraut, nein zu sagen, und ist widerstrebend mitgegangen, aus Höflichkeit sozusagen. Am Abend war er begeistert.
    »Ehrlich, ich hab immer gedacht, dass ich so was hassen würde! Aber die Viecher sind echt witzig. Und es ist das erste Mal, dass ich wirklich kapiere, wozu die Arbeit gut ist.«
    Clo hat ihm gesagt, er hätte ein Händchen dafür. Das stimmt auch, ohne jeden Zweifel. Er hat die Melkmaschine sofort bedient wie ein Profi. Er hat ein Gefühl für Tiere, er kann sie lenken und weiß, wie man sie anpackt. Clo hat angeboten, ihm beizubringen, wie man Ziegenkäse macht. Sie hat ihn gefragt, ob er Lust hätte, eine Weile zu bleiben, mit ihr, mit Olivier. Es gäbe Arbeit, sie bekämen Unterkunft und Verpflegung …
    »Gute Verpflegung!«, hat sie gesagt.
    Die beiden haben gegrinst.

 
    A m Ende der Woche müssen wir Roswell zu Marlène und Bertrand zurückbringen.«
    Ich musste das Thema wohl oder übel auf den Tisch packen, obwohl ich wusste, dass den Jungs nicht danach war.
    Wir saßen unter Bäumen, Cédric, Olivier und ich. Roswell schlummerte in einem Liegestuhl, Clos Katze lag träge auf seinem Bauch. Clo war in der Küche mit irgendwelchen Experimenten beschäftigt, die verdammt gut rochen.
    Olivier hat gesagt: »Klar bringen wir Gérard zurück nach Hause. Keine Frage.«
    Er schaute auf seine Füße. Cédric wirkte auch irgendwie verlegen. Sie hatten mir etwas zu sagen und wussten nicht recht, wie sie es anfangen sollten.
    Schließlich ist Cédric mit der Sprache rausgerückt: »Ich glaube, ich werde danach hierher zurückkommen. Clo braucht mich bei den Ziegen.«
    Olivier hat gleich hinterhergeschoben: »Ja, ich hätte auch Lust. Einfach so, mal sehen. Für ’ne Weile.«
    Ich habe ihn gefragt: »Und wie willst du das deinem Vater beibringen?«
    »Ist mir scheißegal, das seh ich dann schon.«
    Cédric hat den Kopf geschüttelt: »Im Ernst – meinst du, er wird das verstehen?«
    »Nein. Aber das ist mir wurst. Nur weil er beschlossen hat, dass ich seinen Laden übernehme, muss ich das noch lange nicht machen. Ich bin nie gefragt worden. Er lebt nicht mein Leben. Und seins will ich auf keinen Fall.«
    Ich habe mich zu Cédric umgedreht: »Und dein Vater, was wird der sagen?«
    »Ach, der – solange ich arbeite … Es ist eher meine Mutter, die sich ins Hemd machen wird: Ich inmitten der feindlichen Natur, umringt von wilden Ziegen!«
    »Wild und blutrünstig«, habe ich hinzugefügt.

 
    I ch weiß noch nicht, ob ich lange mit ihnen bei Clo bleiben werde. Ich glaube nicht. Ich bringe sie hierher zurück, damit sie sich unterwegs nicht verirren.
    Und dann sehe ich weiter.
    Ich glaube, ich werde bald weiterziehen. Kaan hat mir eine süße kleine Mail und Fotos von sich geschickt. Sein Trio hat gerade einen Vertrag für sechs Monate unterschrieben, in der Türkei. Ein Land, das ich nicht kenne. Und es gibt noch so viele andere. Die Welt ist groß und das Leben kurz.
    Ich möchte mir im Alter nicht sagen müssen, dass ich mein Haus nie erforscht habe. Dass ich mein ganzes Leben nur in einer Ecke der Küche oder einem Winkel des Wohnzimmers verbracht habe.
    Ich will leben, für immer und bis zum letzten Tag.
    Ich habe noch ein Stück Weg vor mir.
    Die Türkei ist
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