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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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Vorbemerkung
    D ie deutsche Seele», schrieb einst Friedrich Nietzsche, «hat Gänge und Zwischengänge in sich, es gibt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliese; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnisvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos.» Und doch hat es über die Jahrhunderte nicht an Versuchen gefehlt, in die Tiefe der deutschen Seele hineinzuleuchten – von Menschen, die von außen auf das Land blickten, aber auch von Deutschen selbst, die in ihren Höhlen, Schreibzimmern und Elfenbeintürmen über ihre eigene Nation Rechenschaft ablegen wollten. Gelegentlich war und ist in diesen Zusammenhängen auch die Rede von «deutschen Tugenden», die diese Nation vor anderen auszeichne. Fleiß, Sparsamkeit und Ordnungsliebe werden bisweilen genannt oder ähnliche bürgerliche Tugenden, die sich im Zeitalter der Aufklärung herausgebildet haben. Eine Reihe von ihnen haben die Preußen für sich als «preußische Tugenden» in Anspruch genommen und diesen Tugendkatalog um «soldatische» Eigenschaften wie Pünktlichkeit und Gehorsam ergänzt. Wer mag, kann aber auf der Suche nach «deutschen Tugenden» auch noch viel weiter, und zwar bis auf Tacitus zurückgehen, der im frühen zweiten Jahrhundert nach Christus in seiner Schrift Germania den Germanen Redlichkeit und Freiheitsliebe, Treue und Aufrichtigkeit, den Männern unter ihnen Tapferkeit und den Frauen Keuschheit bescheinigte – all dies, ohne bekanntlich jemals auch nur einen Germanen zu Gesicht bekommen zu haben.
    Wer sich mit nationalen Charaktereigenschaften beschäftigt, rührt an Stereotypen und Klischees. Es sind, wie es der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger formulierte, «unsichtbare Brillen, die, wenn man durch sie blickt, die Wirklichkeit einfärben und oft auch verzerren – an die man sich aber auch schnell gewöhnt». Manch einer meint, der Wind der Globalisierung würde diese Eigenschaften im Lauf der Zeit abschleifen und die Menschen auf dem Erdball würden sich immer ähnlicher werden. Und doch hat ein jeder, wenn er sich einen typischen Italiener, einen typischen Franzosen oder eben einen typischen Deutschen vorstellen soll, ein bestimmtes Bild im Kopf. Warum auch nicht? Bekanntlich steckt ja in jedem Vorurteil ein Körnchen Wahrheit. Es kommt darauf an, wie man mit seinen Vorurteilen umgeht.
    Aber lassen sich Tugenden überhaupt an bestimmte Nationen knüpfen, sind sie nicht vielmehr etwas Unteilbares, Universales? Davon jedenfalls geht die klassische Tugendlehre aus, die in ihnen die Richtschnur zum guten Handeln sieht. Für die Ethik der Antike waren vier Tugenden zentral: die Klugheit, die Mäßigung, die Tapferkeit und die Gerechtigkeit. «Die Mäßigkeit erhält den Leib, die Gerechtigkeit ernährt, die Tapferkeit wehrt, die Weisheit regiert alles», schrieb Martin Luther. Der Apostel Paulus hat den vier Kardinaltugenden in seinem Brief an die Korinther drei weitere hinzugesellt: Glaube, Hoffnung und Liebe – und der Liebe unter diesen den obersten Platz zugewiesen. Im Gegensatz dazu hat man die sogenannten bürgerlichen Tugenden – wie Pünktlichkeit, Reinlichkeit und Ordnungssinn – als «Sekundärtugenden» bezeichnet, da sie ihre Legitimation nicht aus sich heraus erhalten: Erst im Lichte der Zwecke oder der Idee, der sie sich unterordnen, wird erkennbar, ob sie zum Guten oder zum Bösen ausschlagen. Auch Robespierre hielt sich bekanntlich für einen tugendhaften Menschen, als er all jene, die nicht seinen Tugendvorstellungen entsprachen, auf die Guillotine schickte.
    Wer über Tugenden spricht, muss also auch auf die ihnen entsprechenden Laster zu sprechen kommen. Die christliche Überlieferung hat den Kardinaltugenden die sieben Todsünden gegenübergestellt. Dazu gehören Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Dass es sich dabei um Untugenden handelt, wird auch für die allermeisten Nichtgläubigen nachvollziehbar sein. Aber längst nicht immer lassen sich die Tugenden von den Lastern so klar unterscheiden. «Tugenden sind Laster, die ihr Schlimmstes nicht ausleben», schreibt der Philosoph Martin Seel, und «Laster sind Tugenden, die ihr Bestes versäumen.» Und bisweilen ist es vom einen zum andern, von der Tugend zum Laster, nur ein kleiner Schritt.
    Die folgenden Essais lassen einige der den Deutschen typischerweise zugeschriebenen Eigenschaften und Tugenden Revue passieren – von der Anmut über die Gemütlichkeit über die Sparsamkeit bis hin zum Weltschmerz und
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