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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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noch jung. Doch Bertrand wollte nichts davon wissen, er hat sich einfach geweigert. Aber ich, ich wäre zu allem bereit gewesen. Sogar eine künstliche Inzineration hätte ich mitgemacht.«
    »Eine Insemination.«
    »Da wäre ich auch nicht gegen gewesen.«
    Sie echauffiert sich, bekommt rosige Wangen. »Ich hätte sogar adoptiert, verstehst du! Wenn der Kinderwunsch dich packt, dann könntest du in der nächsten Klinik eins stehlen gehen. Es gibt Frauen, die das machen, stimmt’s? Das hört man immer wieder in den Nachrichten. Es sollen die Hormone sein: Diese Leere füllt dich vollkommen aus, du denkst an nichts anderes mehr. Aber Adoptieren, das ist so eine Sache … Pfff! Man weiß nie, wo die herkommen. Und wenn man uns ein schwachsinniges Gör angedreht hätte? Was hätten wir damit gemacht? Das wäre dann zu dem da noch hinzugekommen. Und mit dem bin ich bedient, das kannst du mir glauben!«
    Es endet fast immer mit dem armen Roswell, der im Schlaf lächelnd vor sich hin sabbert.
    Marlène schenkt sich ein letztes Gläschen ein, zum Trost, dann setzt sie sich im Wohnzimmer vor die Glotze, bis der Schlaf sie einholt und im Traum auf weitere Siegerpodeste hebt.
    Ich räume dann den Tisch ab, spüle mein Geschirr und gehe ein bisschen an die Luft – oder zur Arbeit.

 
    R oswell hat keinen Gesamtblick auf die Dinge, es fehlen ihm ein paar Schaltstellen.
    Bertrand sagt, da könnte man nichts machen, bei seiner Geburt hätten sie wohl Mist gebaut. Ein Riesenkuddelmuddel. Und weil sie es verpfuscht haben, ist er jetzt verkorkst.
    Das war’s.
    Er tickt nicht wie wir oder wie sonst irgendetwas.
    Ich weiß nicht, was er versteht, nicht einmal, was er tatsächlich sieht. Es heißt, Katzen können kein Rot erkennen und Hunde sehen sechsmal schlechter als wir. Aber Roswell? Er lebt in einer anderen Welt, einer Parallelwelt. Ich weiß, dass er gern fernsieht und gern isst. Das vor allem. Auch wenn er nicht einmal Couscous von Cassoulet unterscheiden kann.
    Das ist eins von Marlènes Lieblingsspielchen.
    »Willst du den Bürzel, Dusselchen?«
    »Au-mja!«
    »Haha! Du willst den Bürzel? Aber das ist Kaninchen, du Rindvieh!«
    Bertrand seufzt: »Das ist nicht witzig, Lénou. Lass das, hast du mich verstanden?«
    »Jetzt darf man schon nicht mal mehr lachen! Hm, mein Dusselchen?«
    Und Roswell wiederholt: »IsssTaniinchen! IsssTaniinchen!«, und lacht sich dabei kaputt. Und Marlène freut sich.
    Sie streichelt Tobby und meint, zum Glück gibt es hier auch welche, die Humor haben!
    In Roswells Augen steht blinder, grenzenloser Gehorsam. Wie bei einem kleinen Kind, einem Tier … oder nein, wie bei einem geprügelten Hund.
    So viel Liebe, das macht mich fertig: Ich fühle mich verpflichtet, mich um ihn zu kümmern. Das sieht mir überhaupt nicht ähnlich. Mein Herz ist kein Tierheim.
    Aber um nichts auf der Welt könnte ich ihn abends ohne ein letztes Küsschen auf seine Wangen einschlafen lassen. Ohne sein »Dubisssnett-nich?« und sein »Okeh-Scheff!«.

 
    I ch habe noch nie in einer Fabrik gearbeitet. Es ist weniger hart, als ich dachte. Aber umso deprimierender.
    Die Frauen haben glanzloses Haar, Ringe unter den Augen und sind blass. Sie reden über Gott und die Welt, aber vor allem über ihre Kinder.
    Ich höre ihnen zu, wie sie die Litanei der Erkältungen, der Impfungen, der ersten Wörter, der ersten Schritte rauf- und runterleiern. Wie sie dem nachtrauern, was sie alles verpassen, was sie nicht sehen, aber am Abend von der Tagesmutter erzählt bekommen oder von der Lehrerin nach der Schule.
    Darüber reden sie. Und über Geld.
    Nicht über das, was sie verdienen, sondern über das, was ihnen an jedem Monatsende fehlt. Nur dass das Monatsende schon am fünfzehnten anfängt. Manchmal sogar noch früher.
    Die Arbeit am Fließband lässt die Sorgen vorbeiziehen. Die Hände sind beschäftigt, der Kopf ist frei. Man hat Zeit, alle Probleme endlos hin und her zu wälzen. Selbst in den Pausen haben sie Mühe, ihre trüben Gedanken zu vergessen, die nächsten Entlassungen sind schon absehbar, ihr Kerl ist vielleicht arbeitslos, die Demos auf der Straße, und nichts ändert sich.
    Nichts.
    Das Einzige, was ihnen neben den Kindern noch ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, sind die Romanzen. Das Herzklopfen, die Geschichten, die sie sich zusammenphantasieren und die ihnen helfen, die Woche zu überstehen, den Monat, das Jahr, das ganze Leben. Sie erzählen einander die Anfänge und die Enden. Die Illusionen, die falschen
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