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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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mich herum für eine Weile täuschen.
    Vielleicht wegen meines Blicks. Ich lächle nicht, ich mache nicht auf Barbiepuppe. Wenn ich Gefühle habe, zeige ich sie nicht. Außer vor Roswell, weil der das nicht sieht.
    Als ich klein war, sagte mein Vater immer, wenn ich weinen musste: »Du hast wirklich keine Eier in der Hose!«
    Und meine Brüder haben sich kaputtgelacht.
    Deswegen beäugten mich Bertrand und Marlène an unserem ersten Abend so unauffällig wie möglich, aber voller Zweifel.
    Sie trauten sich nicht, mich zu fragen. Stattdessen strichen sie um den heißen Brei, in der Hoffnung, ich würde sie auf die richtige Spur bringen. Was war ich, wer war ich? Ein etwas tuntiger Typ, eine Lesbe oder was? Bertrand schien die Sache am wenigsten geheuer zu sein.
    »Marlène hat gesagt, du arbeitest in der Fabrik?«
    »Ja.«
    »Bist du aus der Gegend?«, hat sie gleich weitergefragt.
    »Nein.«
    »Ist das alles, was du an Sachen dabeihast? Nur diesen Rucksack?«
    »Ja.«
    Das kam ihnen natürlich spanisch vor. Marlène hat ihr Verhör dann plötzlich in einem leicht besorgten Ton fortgesetzt, fast mütterlich: »Du bist doch nicht aus einem Heim abgehauen oder so was?«
    »Nein.«
    »Und du bist volljährig, oder? Wir wollen nämlich keinen Ärger.«
    Ich habe seufzend meinen Personalausweis aus der Tasche gezogen. Sie hat ihn sich sofort gekrallt, ihn studiert und mich mit dem Foto verglichen, als wäre sie von der Polizei. Dann hat sie auf einmal die Augenbrauen hochgezogen, gelacht und gemeint: »Dein Alter sieht man dir wirklich nicht an.« Sie hat sich zu Bertrand umgedreht. »Hättest du gedacht, dass sie schon dreißig ist?«
    Bertrand hat erleichtert gelächelt. Ich war volljährig und eine Frau. Zwei gute Nachrichten auf einen Schlag. Männer sind schlampig, sie lüften nie, verbreiten überall Turnschuhmief, werfen ihre dreckigen Unterhosen einfach auf den Boden und hinterlassen immer einen Saustall. Manchmal ist es so schlimm, dass man alles neu streichen muss, wenn sie wieder weg sind. Eine Frau, ja, das war gut.
    »Ich sag dir was, das sieht man dir kein bisschen an«, hat Bertrand gemeint. »Und du hast die Landwirtschaftsschule abgeschlossen?«
    »Mmh.«
    Das musste genügen.
    Kein Abschluss, egal.
    Ich bin freilaufend aufgezogen worden.
    Es war nie mein Traum, Hühnereier mit Formaldehyd zu begasen, um Bakterien abzutöten. Auch nicht, um fünf Uhr morgens aufzustehen und an der Landstraße entlang zur Arbeit zu gehen, inmitten von Abgasen und Nebelschwaden. Und auch nicht, mich hier einzumieten, bei Marlène und Bertrand am Arsch der Welt, mit Blick auf das Industriegebiet.
    Kennen Sie irgendjemanden, dessen Traum das wäre? Sein Leben mit beiden Füßen in der Scheiße zu verbringen, im Höllengestank einer Hühnerfarm?
    Ich glaube, in den Geburtskliniken liegen ausschließlich Prinzessinnen und Märchenprinzen in den kleinen Plastikbetten. Kein einziges Neugeborenes, das entmutigt, enttäuscht, traurig oder blasiert wäre. Kein einziges kommt auf die Welt und sagt sich: Später gehe ich mal für einen Hungerlohn in der Fabrik malochen. Ich werde ein Scheißleben haben, und das wird super-duper. Juhu.
    Warum ich hier bin, jetzt, in diesem Moment, ist sogar mir selbst ein Rätsel.
    Aber da ich an Schicksal glaube, sage ich mir, dass es irgendwo einen großen Plan geben muss, hoch über meinem Kopf. Dass es für das alles einen Grund gibt.

 
    D ie Welt ist nicht für Menschen wie Roswell gemacht.
    Sein Körper ist in sich zusammengefallen, er sieht aus, als würde er seiner Zeit als Fötus hinterhertrauern. Er ist mager, verkrümmt.
    Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, hat er mich sofort an diesen Außerirdischen aus der Roswell-Affäre erinnert, dessen fliegende Untertasse Ende der vierziger Jahre in den USA abgestürzt sein soll.
    Ich hätte ihn E. T. nennen können, das würde auch hervorragend passen.
    Aber Roswell ist cooler.
    Roswell ist zweiunddreißig Jahre alt, und er lacht fast immer.
    Er schläft auch ziemlich viel, dank Marlène. Bestimmt zehnmal am Tag fragt sie ihn: »Hast du nicht Durst, Trottel?« Oder: Dödel, Strohkopf, Dummerjan. Mondkalb oder Dusselchen an freundlicheren Tagen.
    Roswell lacht sich jedes Mal schlapp, zeigt auf sein Glas, nickt und nuschelt: »Mjaaa, Durssst!«
    Dann schenkt Marlène ihm ein, sich selbst auch. Nach einem oder zwei Gläschen schläft er tief und fest auf seinem Stuhl. Und Marlène legt CDs auf und weint ein bisschen.
    Sie ist nämlich
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