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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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selbst, sie könnte niemals ein Tier aussetzen.
    Einen Schwachsinnigen vielleicht. Aber einen Hund niemals!

 
    M arlène hatte sofort wieder Oberwasser. Sie hat ihre BH-Träger zurechtgezupft, sich die Locken im Nacken getätschelt und ihren Plan erklärt.
    Wenn man ihr dabei richtig zuhörte, spürte man genau, dass diese Idee nicht erst von gestern war. Dass sie Zeit gehabt hatte, an ihrem Ast zu reifen, bevor sie auf das Wachstuch klatschte.
    »Also, hör zu: Dein Bruder geht nie aus dem Haus, niemand weiß, dass er überhaupt hier ist, stimmt’s?«
    Bertrand hat genickt und schnell mit der Hand gewedelt, was so viel heißen sollte wie: Weiter, weiter, worauf willst du hinaus?
    »Das heißt – fast niemand, meine ich«, fuhr Marlène fort, mit einer Frische in der Stimme, die an eine kühle Nachmittagsbrise am Meer erinnerte.
    Das »fast«, das war ich.
    »Aber sie hat ja nur einen Zeitvertrag, und da sie in der Fabrik gerade entlassen, besteht keine Gefahr, dass sie den verlängern. Durch die Krise können wir unbesorgt sein! Und wenn sie dann weg ist, vermieten wir nicht gleich wieder. Sondern wir nutzen das aus, um … Na, du weißt schon!«
    Sie hat eine kleine Pause gemacht. Dann ging es weiter: »Und wenn ich mich nicht irre, weiß dein Bruder noch nicht mal, wie er mit Nachnamen heißt. Stimmt’s, oder hab ich recht?«
    »Hmfff«, hat Bertrand gemeint.
    Marlène hat tief Luft geholt, den Rücken durchgedrückt, an ihrer Zigarette gezogen und den Rauch ganz langsam durch die Nase wieder ausgeblasen.
    Es war wie in einem Psychothriller, gleich würde die Musik einsetzen, eine schrille, nervenaufreibende Melodie: Dring! Driing! Driiing! Driiiing!
    Sie sagte: »Außerdem kapiert ja eh keiner was, wenn er redet! Deshalb wüsste ich nicht, wie er uns bei der Polizei anzeigen sollte, wenn wir ihn verlieren. Oder?«
    Und sie kicherte vor sich hin.
    In dem Moment bin ich die restlichen Stufen heruntergerannt und ins Wohnzimmer geplatzt. Ich habe getan, als wenn nichts wäre, und mich an den Tisch gesetzt. Marlène hat mir mechanisch den Topf rübergeschoben.
    Ich habe meine Nudeln mit geriebenem Käse bestreut.
    »Du hast aber ganz schön lange gebraucht«, hat sie gemeint und mich mit ihren vorstehenden blassblauen Augen angestarrt.
    »Ich habe ihm eine Geschichte vorgelesen.«
    »Eine Geschichte. Schau mal einer an. Jetzt soll man ihm auch noch Geschichten vorlesen, das fehlte noch!«
    Marlène hat ihren Mann mit Verschwörermiene fixiert.
    »Er ist mein Bruder«, hat Bertrand gesagt, als würde das irgendetwas ändern.
    »Das ist kein Grund zum Angeben«, hat Marlène gemeint und einen schönen, kreisrunden Rauchkringel in die Luft geblasen.
    Da hat es angefangen zu regnen, aber ohne jeden Zusammenhang.

 
    I ch bin seit viereinhalb Monaten hier.
    Die Anzeige habe ich im kostenlosen Lokalblättchen gefunden: Ruhige Lage, helles Zimmer mit Bad, Toilette, Kochmöglichkeit, Garten.
    Ich habe angerufen. Marlène war sofort dran.
    »Worum geht es?«, hat sie gefragt.
    Als ich geantwortet habe, es sei wegen der Anzeige, wurde sie plötzlich zuckersüß und faselte irgendetwas von Ruhe, guter Luft und familiärer Atmosphäre.
    Ich dachte mir gleich, dass da was faul war: Gute Luft in dieser Gegend? Wohl kaum – direkt hinter der Hühnerfarm und auf der ungünstigen Windseite!
    Aber gut, bei der Miete.
    Ich hatte Arbeit gefunden, das war die Hauptsache. Und zwar genau in dieser Hühnerfarm, erst mal für acht Monate, aber mit der Aussicht auf eine Festanstellung, an die ich zwar nicht glaubte, aber das war egal.
    Man hatte mich dem Eierwenden und dem Schlüpfen zugeteilt. Ich hatte weder Ahnung von Federn noch von Schalen, aber mein Lebenslauf hatte bei der Einstellung keine Rolle gespielt. Wie für die meisten Jobs – jedenfalls für die, die ich so mache – braucht man da keine besonderen Vorkenntnisse, man muss sie einfach nur machen. Ich bin sorgfältig, befolge die Anweisungen und komme nicht zu spät. Das reicht.
    Tag für Tag wende ich die Eier jeweils morgens und abends um eine Vierteldrehung und lasse sie dann eine Viertelstunde abkühlen. Nach zehn Tagen im Brüter halte ich sie gegen das Licht und entsorge die, die nicht befruchtet sind. Nach einundzwanzig Tagen werden sie nicht mehr bewegt. Dann wartet man auf das Schlüpfen, und wenn das zu lange dauert, muss man den Küken aus der Schale helfen. Danach lege ich sie auf ein Gitter, und wenn sie ganz trocken sind, kommen sie unter die
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