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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Wärmelampe, die ich regle, indem ich sie jeden Tag ein bisschen weiter von den gelben oder schwarzen kleinen Calimeros wegrücke, bis sie einen Monat alt sind.
    Ich kümmere mich auch um die Einstreu. Das ist nicht schwierig. Es ist nur immer das Gleiche, es stinkt und ist nach einer Stunde nicht mehr besonders interessant. Da der Betrieb nicht sehr groß ist und sie zur Zeit mehr Leute entlassen als einstellen, kommt es vor, dass ich meinen Dienst in zwei Schichten mache, was mehr oder weniger auf Zwölfstundentage hinausläuft. Aber das bin ich gewohnt. Ich habe auch im Gastgewerbe gearbeitet, im Service und in der Küche, das ist so ziemlich das Beste, was es in Sachen moderne Sklaverei gibt. Keinerlei Privatleben, beschissene Arbeitszeiten, garantierte Fußschmerzen.
    Als ich Marlène von meinem Zeitvertrag in der Geflügelfarm erzählt habe, hat sie verzückt und mit einem Hauch Besitzerstolz ausgerufen: »Na, das trifft sich ja wunderbar, mein Mann arbeitet auch da drüben! Er kümmert sich um das Entkrallen der Enten, das Schnabelkürzen bei den Hühnern, das Impfen und das Kapaunisieren. Seit dreiundzwanzig Jahren ist er dort. Deshalb haben wir hier das Haus gekauft, das ist sehr praktisch, so kann er mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Vorher war er Kükensexer, ausschließlich. Das war gut bezahlt. Er hat es mit der Federmessmethode gemacht. Jetzt ist das vorbei, in dem Job gibt es nur noch Japaner, die machen das per Fingerdruck auf die Kloake. Das geht angeblich schneller. Mein Mann meint, es wäre unsicherer als vorher, die Methode hätte eine hohe Fehlerquote. Na ja, wie auch immer, die Zeiten ändern sich. Aber jetzt komm lieber mit und schau dir dein Zimmer an. Wirst sehen, es wird dir gefallen. Ich sage du , wenn es dich nicht stört, weil mit dem Sie und dem ganzen Schnickschnack haben wir es hier nicht so. Bei uns geht es unkompliziert zu, wirst schon sehen.«
    Das Zimmer war oben, neben Roswells, der wohl gerade schlief, denn ich habe ihn nicht gesehen. Das Bad war in einen früheren Wandschrank eingebaut, mit einer Schiebetür. Ich würde problemlos beim Zähneputzen pinkeln können. Aber gut, es war annehmbar, hässlich und sauber, mit Blick auf die Hühnerfarm und das Autobahnkreuz.
    Ich habe gesagt, ich würde drüber nachdenken, und noch am selben Abend angerufen und zugesagt.

 
    A ls ich am nächsten Abend zu ihnen kam, war Bertrand gerade beim Essen. Marlène hat mich vorgestellt: »Alex wohnt jetzt bei uns.« Er hat mir unbeholfen die Hand gedrückt, so fest, dass er mir fast die Finger zerquetschte.
    Dann hat er sich geräuspert. »Hast du schon gegessen?«
    »Ja, danke.«
    »Aber du trinkst doch noch ein Gläschen Wein?«
    »Lieber ein Bier, wenn’s geht.«
    Während ich mein Export trank, musterte er mich wortlos, mit einer leichten Verunsicherung im Blick. Marlène auch, das konnte ich sehen. Und ich ahnte, warum.
    Mein Vorname sagt nichts über mich aus und mein Körper noch weniger. Ich bin lang und spindeldürr, eine richtige Bohnenstange, groß für ein Mädchen, kleiner Busen, die Haare im Nacken hochrasiert und darüber ein kurzer Igelschnitt. Ich trage enge Jeans und ein weites Kapuzensweatshirt. Ich habe Piercings in den Augenbrauen, ein hageres Gesicht und eine heisere Raucherstimme.
    Ich sehe aus wie ein Junge. Es ist nicht so, dass ich gern einer wäre. Aber ich tue auch nichts, um das Gegenteil zu beweisen. Ich gehe gern nachts spazieren. Ich bin gern allein und gehe überallhin, wo es mir gefällt. Aber wenn man als Mädchen abends auf einsamen Straßen unterwegs ist, dann fahren die Autos plötzlich langsamer, ohne dass man sie darum gebeten hätte. Die Fensterscheiben gehen runter, und besoffene Stimmen grölen: »He! Mademoiselle! Haben Sie’s noch weit? Sollen wir Sie ein Stückchen mitnehmen?«
    Manchmal folgen einem Autos im Schritttempo, wie große treue Hunde, bis man um die nächste Ecke biegt oder so tut, als würde man in einem Hauseingang verschwinden, oder bis sie es satthaben und mit quietschenden Reifen davonbrausen.
    Als ich jung war, habe ich ein paarmal Angst gehabt. Nur Angst, weiter nichts. Aber das hat mir gereicht. Deshalb verkleide ich mich jetzt. Ich ziehe mich an wie ein Kerl, frisiere mich so und habe mir einen lässigen Gang zugelegt. Das macht mich unsichtbar, ich bin keine Beute mehr, kein Freiwild. Nur ein Jugendlicher von hinten, der sich durch die Nacht bewegt.
    Ein junger Mann. Weiter nichts.
    Selbst bei Tageslicht kann ich die Welt um
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