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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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sensibel.
    Es hat Zeiten des Glücks gegeben in ihrem Leben, Zeiten, denen sie nachtrauert. Sie war einmal Miss, mit zwanzig. Um nicht zu vergessen, wie schön sie war, hat sie ihr Foto gleich im Hauseingang an die Wand gehängt: Im Bikini steht sie auf dem Siegerpodest, mit Diadem und einer Schärpe mit der Aufschrift »Miss Weinlese 90«.
    Man erkennt sie kaum, nicht nur weil sie damals rank und schlank war, sondern auch wegen ihres Gesichtsausdrucks: ein schönes, strahlendes Lächeln und leuchtende Augen voller Zukunft.
    Daneben, in einem goldverzierten Rahmen, drei vergilbte Zeitungsausschnitte: aus dem Regionalblatt , dem Provinzboten und dem Gemeinde-Echo . »Ein guter Jahrgang für die Miss Weinlese!« – »90, Marlène Spitzenauslese« – »Marlène Dachignies, vollmundig, kräftig und samtweich!«
    Marlène sagt, es wäre hart, in Vergessenheit zu geraten, wenn man dem Ruhm einmal so nahe war.
    Auf die Kommode darunter hat sie eine Vase mit künstlichen Blumen gestellt. Es sieht aus wie ein kleiner Altar oder wie ein kleiner Friedhof. Nur die Kerzen fehlen.
    Wenn sie von der Wahl erzählt, sagt sie, es wäre der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Und wenn Bertrand ihr nicht Steine in den Weg gelegt hätte mit seiner Eifersucht, seinem Besitzanspruch, dann hätte sie weitergemacht.
    Und sie hätte gewonnen, das ist sicher, denn sie hatte den Ehrgeiz, die Einstellung und den richtigen Körper.
    Aber nein, er hat gesagt: »Entweder die Wettbewerbe oder ich.«
    Sie war jung und hat geantwortet: »Du.«
    »Dabei hätte ich es weit bringen können, das kannst du mir glauben! Ich hätte es bis in die Regionalauswahl geschafft, vielleicht sogar noch weiter. Aber nichts da, ich habe den Anschluss verpasst, die Karriere im Keim erstickt. Aus Liebe macht man die dümmsten Fehler, glaub mir!«
    Wenn Marlène trinkt, zieht sie Bilanz.
    Seit ich da bin, durfte ich mir ihr Leben schon mehrfach in voller Länge und Breite anhören. Ich weiß zwar genau, dass ich nur deshalb die Auserwählte bin, weil sonst niemand da ist, aber an manchen Abenden höre ich trotzdem zu. Und nach einer Weile sehe ich unter der dicken Make-up-Schicht und den platinblonden Strähnchen mit den mausbraunen Wurzeln nur noch ein altgewordenes Mädchen, das am Bahnsteig ankommt, als der letzte Zug gerade abgefahren ist. Sie ist ranzig wie ein altes Stück Speck. Für ihre vierzig Jahre sieht sie schon verdammt ramponiert und traurig aus.
    Sie kann stundenlang vor sich hin reden, ohne müde zu werden, und im Schlamm rumwühlen, bis alles in ihrem Leben trüb und hässlich ist. Sie hat Ausdauer.
    Manchmal unterbricht sie sich mitten im Satz, glotzt mich an wie ein toter Fisch und sagt: »Du bist auch eine Frau, du kannst mich verstehen, nicht wahr?«
    Eines Tages hat sie mich gefragt: »Hast du Kinder?« Dann hat sie sofort mit den Achseln gezuckt und gemeint: »Ach, Quatsch, du bist ja noch viel zu jung, bin ich blöd!«
    Nein, nein, ich könnte schon Kinder haben. Mehrere sogar. Sie vergisst nur immer, dass ich dreißig bin. Ich habe etwas Unfertiges, etwas Unreifes an mir.
    Ich bin wie ein Entwurf meiner selbst.

 
    K eine Kinder zu haben ist Marlènes großes Unglück. Ihr Drama, ihr Schmerz, der Stachel in ihrem Herzen.
    »Ich habe alles versucht, alles! Medikamente, Kräuter, Diäten! Ich bin sogar zu einem Wunderheiler gegangen, stell dir vor. Einem Alten in der Stadt, der mit Fotos und Handauflegen arbeitet. Ich habe alle Untersuchungen gemacht, die es auf dieser Welt gibt. Die haben mich von oben bis unten durchgecheckt, das kannst du mir glauben. Und am Ende haben sie rausgefunden, dass es an Bertrand lag!«
    Bei diesem Kapitel angekommen, seufzt sie in der Regel, tupft sich die Augen mit einem Stück Küchenpapier ab, möglichst ohne ihre Wimperntusche zu verschmieren, und fügt hinzu: »Den Schlag kann er nicht wegstecken. Das nagt an seinem Stolz. Kein Wunder: Ein Mann, der zehn Jahre lang Kükensexer war, produziert nur Windeier! Seitdem redet er fast gar nicht mehr, dabei war er vorher schon nicht gerade gesprächig. Und im Bett, na ja, du weißt schon … Von Frau zu Frau: Es ist so, als wäre ich unsichtbar geworden, als wäre rein gar nichts mehr an mir begehrenswert. Unglaublich, findest du nicht?«
    Ich muss darauf nicht antworten. Ein Kopfschütteln, ein Nicken, das reicht. Marlène will nicht meine Meinung, sie will meine Ohren.
    »Dabei hat uns der Günikiloge gesagt, dass es Möglichkeiten gibt! Und damals waren wir
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