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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Freuden und die echten Leiden. Aber auch die schönen Dinge, langjährige Ehen, ersehnte Kinder, das Glück, wenn es vorbeischaut.
    Die Männer versuchen ein bisschen zu flirten in den Pausen, wenn sie unter dem Vordach eine Zigarette rauchen. Und auch in der Kantine. Sie sind unbeholfen, nicht sehr subtil oder einfallsreich. Es sind Männer. Manche sind niedlich, andere hässlich. Die meisten irgendetwas dazwischen.
    Neue Lovestorys entstehen, andere vergehen. Es gibt zärtliche Blicke, solche, die einen glatt ausziehen, und andere, die von Eifersucht vergiftet sind.
    Da ist Vanessa mit ihrem fingerdick aufgetragenen Make-up, ihren Lackpumps, die sie während der Schicht in ihrem Fach abstellt, und ihren abgekauten Nägeln. Vanessa, die jeden Abend auf ihren Verlobten wartet, aber an manchen Tagen zu Fuß nach Hause geht, den steinigen Seitenstreifen der Landstraße entlangstöckelnd, weil er sie vergessen oder zu viel getrunken hat oder weil er sauer ist.
    Und Jocelyne, die sich immer früher umzieht als wir, um die Spuren auf ihrer Haut zu verstecken. Die denkt, wir würden nichts sehen, und mit solchem Stolz von ihrem Kerl und ihrer großen Liebe spricht, dass wir nichts sagen, weil wir wissen, dass genau das sie aufrechterhält: zu denken, sie könnte uns etwas vormachen.
    Da ist Pedro, der den Frauen immer auf die Brüste schaut.
    Mistlav, der kaum wagt, uns ins Gesicht zu sehen, und rot wird, sobald man ihn anspricht.
    Der alte Darnel, der alle Mädchen angrapscht, ihre Hintern betatscht wie einen Camembert und lacht wie ein vertrottelter Greis, wenn man ihn als Lustmolch oder alten Widerling beschimpft.
    Dann gibt es die, die jeden Samstagabend in die Disco gehen und nie allein nach Hause kommen. Aber immer nur für eine Nacht. Und am Montag um fünf Uhr morgens zur Frühschicht erzählen sie in der Umkleide ihren Fortsetzungsroman. Sie lachen über alles, dichten hemmungslos Sachen dazu, sie sind deftig und direkt. Sie beschreiben das Geschlecht der Männer und was sie mit ihm anstellen.
    Sie schildern alles haarklein, bis in die letzten Einzelheiten. Manchmal spielen sie es auch nach.
    Einige von den Frauen sind schockiert oder tun zumindest so. Die Älteren lachen. Die guten alten Zeiten …
    Oft höre ich ihnen zu, manchmal ziehe ich mich auch zurück.
    Ich habe ihnen nichts zu erzählen.

 
    I ch glaube, Roswell ist der Einzige von seiner Art.
    Ganz allein und durch eine unsichtbare Wand von uns getrennt. Ein Goldfisch im Glas. Er sieht uns, wir sehen ihn, aber deshalb leben wir noch lange nicht zusammen.
    Was er auch tut, er ist weit weg.
    Selbst angezogen wird er nicht mehr als fünfunddreißig Kilo wiegen, mit seinen Jeans, die um die O-Beine schlottern, seinem viel zu großen braunen Pulli und den ausgelatschten Pantoffeln. Es braucht nicht mehr als einen Zeigefinger, um ihn umzuschubsen, wenn überhaupt: Einmal kräftig pusten würde schon reichen.
    Er kann nicht aufrecht stehen, er versucht nur, das Gleichgewicht zu halten. Jeder Schritt dient dazu, den vorherigen aufzufangen, er befindet sich immer kurz vor dem Sturz, aber er fällt nicht. Das grenzt an ein Wunder. Er läuft, er kommt, er geht, er hält sich an Wänden, an Sessellehnen, an Türklinken fest. Er macht sich Popcorn. Er bewegt sich vorwärts wie diese alten Aufziehspielzeuge, die man auf dem Flohmarkt findet. Es ruckelt und schlackert an allen Gelenken, als würde er nur durch die Sehnen zusammengehalten, wie eine Marionette an ihren Strippen.
    Er sieht aus, als wäre er aus lauter Einzelteilen zusammengeschustert.
    Und trotzdem ist er da. Und er weiß eine ganze Menge.
    Das habe ich erst neulich Abend zufällig entdeckt.
    Als er schon im Bett war, kurz bevor ich die Tür zugemacht habe, hat er gesagt: »Wechntach hammwir …«
    »Was?«
    Reden ist nicht so sein Ding, deshalb habe ich gedacht: Wenn er mir was sagen will, ist es sicher wichtig. Ich bin zurück an sein Bett und habe mich zu ihm gesetzt. »Was meinst du?«
    Wenn er redet, muss man sich anstrengen, um ihn zu verstehen, wegen seines verformten Gaumens. Aber mit der Zeit und wenn man gut hinhört, kriegt man genug mit, um sich aus den paar Wörtern, die man aus dem Brei rausfiltert, einen Satz zusammenzureimen.
    »Wechntach hammwir …«
    »Du willst wissen, welchen Tag wir heute haben?« Ich fragte mich, ob das für ihn einen Unterschied machte. »Äh … wir haben Dienstag.«
    Er hat auf seine komische Art den Kopf geschüttelt.
    Wenn er nein sagen will, wirft er den
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