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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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davonging. Er zog sich alle paar Meter die Hose hoch. Egal, welche Jeansmarke er trägt, der Hosenboden rutscht ihm immer bis in die Kniekehlen, und sobald er sich hinhockt, sieht man seine Poritze. Und seit er an seinem großen Kanalprojekt arbeitet, hat er sicher noch mal fünf Kilo zugelegt, die sich an den ursprünglichen Rettungsring angelagert haben. Er hat jetzt die Figur einer Birne.
    Wenn man ihm mit Diät kommt und dass er mit dem Saufen aufhören sollte, seufzt er: »Nervt mich nicht wegen dem Bier! Das ist nur Gerste und Hopfen, das bisschen Getreide tut niemandem weh! Das Leben ist eh kurz. Scheiß drauf! Sterben müssen wir alle.«
    Als er dann weg war, habe ich mich allein gefühlt.
    Komisch: Der Zackenbarsch sagt nie mehr als drei Sätze pro Stunde, aber sobald er weg ist, wird alles still. Das soll einer verstehen.
    Ich saß noch eine Weile da und ließ meine Gedanken schweifen, als ich auf der anderen Kanalseite jemanden aufkreuzen sah. Es war ein Jugendlicher, nicht sehr groß, rappeldürr, die Nase im Kragen vergraben, Kapuze über den Kopf gezogen, mit einem komischen Gang, leicht vorgebeugt, etwas steif und eilig, die Schultern hochgezogen, die Hände tief in den Taschen, als wären die Bullen hinter ihm her. Er läuft hier ab und zu rum, aber nie um die gleiche Uhrzeit. An manchen Tagen dreht er um, bevor er an unserem Baum vorbeikommt, am Ufer gegenüber, und geht den gleichen Weg wieder zurück. Oder er läuft weiter bis zu der kleinen Schleuse. Und manchmal überquert er den Kanal. Wahrscheinlich geht er dann weiter in die Stadt. Wir wissen es nicht, weil wir ihn aus den Augen verlieren, sobald er am Trafohäuschen vorbei ist. Wo kommt er her, wo geht er hin? Dem Zackenbarsch ist das Jacke wie Hose. Aber ich frage mich, was der Typ da treibt. Er muss drauf sein wie wir, wenn er so rumläuft, ohne festes Ziel, im Stechschritt, auf dem Treidelweg, weil es nicht drauf ankommt, ob da oder anderswo …
    Manchmal wirft er einen Blick zu uns rüber, wenn er glaubt, dass wir ihn nicht bemerkt haben. Dann guckt er schnell wieder weg. Als hätte er Angst vor uns.
    Jedes Mal, wenn der Zackenbarsch ihn vorbeikommen sieht, bellt er ihm nach, »Wau! Wau!«, mit seiner dröhnenden Stimme. Einfach so. Zum Spaß. Oder er wirft eine leere Dose nach ihm und ruft: »Hol’s Bällchen!«
    Aber der Kanal ist so breit, da besteht keine Gefahr, dass er ihn trifft.
    Er muss uns für Spinner halten, was nicht ganz falsch ist.
    Ich habe ihm nachgeschaut, aber es gab nichts weiter zu sehen.

 
    W ie kann man wissen, wie viel Zeit einem noch bleibt?
    Als mein Kumpel Manu gegen eine Platane gerast ist, eines späten Samstagabends oder vielmehr Sonntagmorgens, mussten wir wohl oder übel einsehen, dass es jederzeit so enden kann, man kommt ohne Vorwarnung ins Schleudern und verliert die Kontrolle.
    Der Zackenbarsch hat gemeint: Das war ein Schlag mit dem Damoklesschwert. Klare Ansage. Trinken oder fahren, da muss man sich entscheiden.
    Er hat sich entschieden. Er fährt nicht mehr – Schluss, aus. Das kann allerdings auch damit zusammenhängen, dass er kein Auto hat. Sein letzter Wagen hat mit 250000 Kilometern den Geist aufgegeben, was für einen Fiat Uno nicht schlecht ist. Am Ende konnte man die arme Schrottkiste nur noch symptomatisch behandeln. Aber der Zackenbarsch fühlte sich am Steuer sowieso eingeengt.
    Oder vielmehr durch das Steuer, angesichts seines Gesamtumfangs.
    Manus Unfall hat die ganze Clique umgehauen. Wir waren danach irgendwie verloren und trieben eine Weile wie losgelassene Luftballons durch die Gegend. Mit einem schwer zu verdauenden Gefühl, so als würden wir in Säure baden. Der Tod ist etwas Unerträgliches, wenn er einfach bei Rot durchrast und einen Kumpel umnietet, den man seit dem Kindergarten kennt. Einen netten Kerl dazu, kürzlich erst neunzehn geworden, der gerade eine feste Freundin und seinen ersten Job gefunden hatte und sich endlich nicht mehr wegen jedem Kleinkram mit seinen Eltern rumstritt.
    Wir fragten uns alle: Warum er und nicht wir? Wer hat bei dieser Lotterie das Los gezogen?
    Jeder hat auf seine Art reagiert. Es war nicht nötig, darüber zu reden, zwischen uns allen war klar: Nichts wäre jemals wieder so wie früher. Er war tot, und wir hatten den Schmerz.
    Vielleicht geht es ja allen gleich im Leben. Vielleicht hat jeder irgendwo in einer Ecke so einen kleinen Strauß versteckt, wie man sie an Straßenränder legt. Eins von diesen spießigen, verstaubten
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