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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Plastikblumengestecken in trüben Farben, die den Geruch der Lastwagen annehmen und den Leuten sagen wollen: »Fahrt langsamer, verdammt, macht keinen Blödsinn, der Tod ist für immer. Das sind nicht nur ein paar Punkte auf dem Verkehrssünderkonto, da gibt’s keinen Idiotentest, um zurück ins Leben zu kommen.«
    Und wenn ich zurückblicke, wenn ich an diesen Tag denke, weiß ich genau, das war für mich der Wendepunkt. An dem Morgen, als ich erfahren habe, dass Manu tot war, habe ich angefangen, diesen Notstand zu empfinden, diese Leere, dieses große Nichts, von dem ich nicht wusste, wie ich es füllen sollte und womit. Leben! Leben, verdammt! Ich hatte nur dieses eine Wort dafür.
    Nichts als ein Wort ohne jede Erklärung, ohne irgendetwas, das mir sagte, wohin ich gehen sollte, was ich tun konnte. Wie ein dickes Buch ohne Inhaltsverzeichnis. Und gleichzeitig, weil ich nicht wusste, wie ich es anstellen sollte, wirklich zu leben, habe ich Angstzustände bekommen, echte, solche, die dich in ein Wrack verwandeln, die dich innerlich nach deiner Mutter heulen und glauben lassen, dass du verrückt wirst oder stirbst.
    Ich habe den Höllenabsturz erlebt, mit dem Gefühl, in Einzelteilen dazuliegen, wie ein Bausatz ohne Gebrauchsanweisung.
    Ich habe gesoffen, bis ich mich am liebsten selbst ausgekotzt hätte, gevögelt, bis alle Lust dahin war. Heute weiß ich, was mit mir los war: Ich hatte zu viel Leere in mir und zu wenig Leben.
    Ich sehnte mich so sehr nach einer Leidenschaft, nach einer starken, heftigen Sache, die einen vorwärtstreibt. Einem Ziel. Ja, einem Schicksal! Wennschon, dennschon.
    So sein wie die Leute, die man im Fernsehen sieht, in diesen Holt-die-Taschentücher-raus-Sendungen, wo sie dafür bezahlt werden, dass sie erzählen, wie sie im Elend versunken sind, bis sich plötzlich ihr ganzes Leben verwandelt hat und mit einem Schlag alles Friede, Freude, Eierkuchen war.
    Ich erinnere mich an einen Typen, der lange für eine Bank oder eine Versicherung gearbeitet hat, ich weiß nicht mehr genau. Als Beweis wurden alte Fotos von ihm als Lackaffen gezeigt. Und dann ist ihm plötzlich eine Sicherung durchgebrannt: Er hat seine Maisonette-Wohnung mit Blick auf die Seine aufgegeben und ist ausgestiegen, in die tiefste Ardèche, um Ziegen zu züchten, Brunnenwasser zu trinken und bei Kerzenlicht zu leben. Er heizte mit Holz und sah glücklich aus.
    Ich kann nicht behaupten, dass ich dasselbe machen würde – irgendwelche Viecher zu züchten wäre mein Horror, das sollte nur ein Beispiel sein. Nur leider findet sich eine Leidenschaft nicht per Kleinanzeige. Die hat man im Blut, die spürt man schon als Kind.
    Also suche ich.
    Meine Kumpels sagen, das wäre der Grund, warum ich vor die Hunde gehe. Ich sollte lieber in den Tag hineinleben und einfach warten, bis die Idee vor der Tür steht. Eines Tages würde ich meinen Weg finden, das wäre sicher.
    Aber die haben gut reden, sie haben alle etwas, das sie aufrecht hält.
    Meine Exfreundin Lola spielt Klavier.
    Mein Bruder macht Skulpturen aus Ytong.
    Stef joggt, fährt Rollerskates und macht Judo.
    Der Zackenbarsch ist Bierdosenarchitekt.
    Und ich, ich habe nichts.
    Ich bin achtundzwanzig und habe einen Scheiß.
    Ich hasse Sport, ich kann nicht zeichnen. Ich habe versucht, Klavier zu spielen, aber da ist nichts zu machen. Der einzige Sinn, den ich in meinem Leben finde, ist Stumpfsinn. Ich gehe immer weiter, aber nichts ändert sich.
    Wenn ich eines Tages meinen Weg finde, wird es mit Sicherheit eine Sackgasse sein.

 
    V om Kanal bis zu mir nach Hause sind es gut zwanzig Minuten zu Fuß.
    Schon dreimal ist mir das Moped geklaut worden, und ich habe keinen Cent, um mir wieder eins zu kaufen. Meine Eltern, diese Geier, waren nie bereit, mir was zu pumpen. Sie tun nicht mal so, als hätten sie Mitleid mit mir.
    »Du brauchst dir bloß einen Job zu suchen«, sagt mein Vater.
    »Das tut dir gut! Wenn du zu Fuß gehst, bist du wenigstens an der frischen Luft«, meint meine Mutter.
    Frische Luft, von wegen!
    So sieht er aus, mein Trimm-dich-Pfad: Erst geht’s an den Silotürmen entlang, und dann kommt lange nichts mehr, abgesehen von halb umgefallenen Zäunen, eingestürzten Ziegelsteinmauern und den Schutthaufen der früheren Fabrik, auf denen im Frühling Gänseblümchen blühen, so lange liegen die schon da.
    Ein Stück weiter kommen dann die neuen Siedlungen. Plumpe Kästen, alle gleich – abgesehen vom Anstrich der Fensterläden und der Farbe der
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