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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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schlichte Koinzidenz?
    Ich dachte an das, was sie gesagt hatte, hörte sie es im Stillen sagen, hörte nicht auf, es zu hören, wünschte, sie hätte es nie gesagt:
    «Ich bin sicher, sie hat mich beobachtet. Sie war nicht blind.»
    Ich fuhr weiter auf die dunkle Hälfte der Erde zu. Nun ähnelte der Horizont dem des Meeres rings um gewisse Inseln, war pechschwarz, verschmolzen mit der Nacht. Halbhoch am Himmel zu meiner Rechten schwebte der zunehmende Mond. Zufrieden, dass mich die Dunkelheit gefunden hatte und ich mich gewissermaßen vor mir selbst verborgen fühlte, schaltete ich hoch und fuhr nach Hause.
    – Wo ich binnen einer Stunde ankam. Ich verbrachte eine ganze Weile damit, das Tor meiner kleinen Garage aufzubekommen, das ich noch nie geöffnet hatte, und parkte den BMW. Im Duster war die Farbe des Fahrzeugs nicht zu erkennen, und bei Tageslicht hatte ich nicht darauf geachtet. Ich konnte mir keinen schlimmeren Verrat in meinem Leben vorstellen, keinen schreienderen Widerspruch zu meinem alten Ich, als nun der Eigner dieses Wagens zu sein, nachdem ich vier Jahre lang zwei Opfer eines Autounfalls betrauert hatte. Ich drückte auf einen Knopf und ging schnell unter dem herabrollenden Tor hinaus. Dann stand ich auf dem Weg und blickte in einen dunstigen Himmel hoch, von dem immerhin ein wenig Sternenlicht herabfiel. Das Wasserfallrauschen einer in einem Stadion versammelten Menge drang zu mir, brandete auf und verebbte. Eine Straße weiter lag die Highschool, die angeblich größte der Stadt: Flachbauten wie in einem Straflager, zertrampeltes Gelände. Morgens wälzten sich Heerscharen von Schülern durch die Nachbarschaft. Ich blieb nie lange genug zu Hause, um mitzubekommen, was sie an den Nachmittagen taten.
    Ich nahm eine Literflasche Pellegrino aus dem Kühlschrank und ging zur Highschool hinüber, wo ein abendliches Baseballspiel im Gange war. Das Stadion lag in einer Niederung – einer Senke? –, einer der wenigen erkennbaren Vertiefungen in dieser Landschaft. Die ganze Welt war in diese Schale gesickert. Das Spielfeld unter mir schwebte, knallgrün von all der Vegetation und grellweiß von all dem Licht, in der schwarzen Nacht.
    Ich sah mir den Rest des Spieles an. Es schien ein wichtiges zu sein. Die Fans verhielten sich wie aufgepeitschtes, tosendes Wasser. Über die Entfernung konnte ich den Ball nicht sehen, hatte keinerlei Beweis dafür, dass es ihn gab, außer einem gelegentlichen, sehr leisen Tocken gegen den Schläger, weshalb der ganze komplizierte Ablauf, die ganze Anmut der Spieler und der Wirbel darum, ziemlich sinnlos wirkte.
    Ich dachte an Flower Cannon, ihr einer unterirdischen Höhle ähnliches Atelier, ihre kleinen Zufallsschätze, ihre Sammlung von Umschlägen. Ich wünschte mir, die Sätze, die die anderen geschrieben hatten, lesen zu können. Bestimmt hatte sie jeden von uns an einen Punkt gebracht, an dem etwas Essenzielles herausgesprungen war – etwas leicht Verrücktes, ganz und gar nicht «Lahmes», «Zahmes» –, und es dann in ihrem Handschriftenbehältnis festgehalten. Bestimmt war ihr Zedernholzkästchen ein schöner Zoo ungezügelter Daseinsäußerungen. Und der Gipfel ihres künstlerischen Schaffens.
    Ich konnte sie nicht abstellen, die Erinnerung an ihre Stimme: «Sie hat mich beobachtet. Sie war nicht blind.»
    Ich blieb und sah auf das Spielfeld hinunter, bis das Geräusch abfahrender Autos fast gänzlich erstorben war, bis die Sitzreihen verlassen und wie Skelette dalagen, bis plötzlich mit einem Tsonk das Flutlicht ausging und eine Dunkelheit hinterließ, die mir einen Augenblick lang nicht nur tief vorkam, sondern mir ganz und gar entsprach. Meine Augen gewöhnten sich daran, und die normale Nacht umschloss mich wieder, und ich stand auf und ging, mir den Hosenboden abklopfend und die beinahe leere Flasche Pellegrino von einer Hand in die andere wechseln lassend, davon. Als ein Wagen voll johlender – mir schien, zu mir herjohlender – junger Männer vorbeifuhr, rief ich: «Ruhe!», und sie schrien «Verpiss dich!» zurück. «Verpisst euch!», schrie ich da. An der Ecke wendeten sie und fuhren erneut an mir vorbei, und alle Insassen kreischten unverständliches Zeug wie die Räder eines vorbeifahrenden Zuges.
    «VERPISST EUCH!», brüllte ich.
    Der Wagen stoppte jäh. Die Reifen rumsten erst über den rechten, dann über den linken Bordstein, als er in einem großen Bogen wendete und im niedrigsten, lautesten Gang auf mich zuröhrte. Das rasend schnell
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