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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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erzählst du es dann mir?» Es war eine verzweifelte Frage.
    «Warum? Weil du das richtige Gesicht dafür hast. Du verstehst, wie dieser Mann aussieht. Der Mann in der Geschichte. Weil du ihm in wichtigen Aspekten ähnlich siehst. Nein, du siehst nicht wirklich aus wie er, aber ich glaube, er hatte das gleiche Gefühl, wenn er sich im Spiegel betrachtet hat. Das gleiche wie du, wenn du dein Gesicht im Spiegel betrachtest. Falls du es betrachtest. Betrachtest du es, Michael?»
    «Nein.»
    «Nein. Du wäschst es, rasierst es, und du betrachtest es nicht? Hast du es früher betrachtet?»
    «Vor langer Zeit. In meiner Jugend, denke ich.»
    «Später habe ich mich an das kleine Mädchen erinnert. Ich bin sicher, sie hat mich beobachtet. Sie war nicht blind.»
    – Das, diese schlichte Feststellung, ließ jäh die Angst in den Kellerraum schießen: «Ich bin sicher, sie hat mich beobachtet. Sie war nicht blind.» Was hatten diese Worte aus Flowers Mund mit dem Unfall zu tun, bei dem meine Familie gestorben war? Durch sie begriff ich, dass ich den Tod meiner Tochter nicht länger ertragen konnte. Er war dabei, mich zu zerbrechen. Und ich würde es zulassen müssen.
    Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich verabschiedet habe. Die Flut meiner Verwirrung trug mich aus dem Raum nach oben und aus dem Gebäude nach draußen. Wieder saß ich in meinem Wagen, und diesmal machte ich mich wirklich davon. Das alte Gemäuer duckte sich dort in der Dämmerung, die, während das Licht aus ihr herausrann, heller statt dunkler zu werden schien. Ich konnte den Umriss von Flowers Gesicht im Kellerfenster ausmachen, wahrscheinlich beobachtete sie mich. War ihre Geschichte die von einem Geist? Dem Geist meiner Tochter? Ich ließ den Wagen an und fuhr los.
    Seitdem habe ich sie nie wieder gesehen noch von ihr gehört.
    Ich schaltete hoch und fuhr auf dem Alten Highway ostwärts, entfernte mich vom letzten Streifen Sonne am Rand der Ebene. Ich fuhr nicht einmal schnell, jedenfalls nicht gleich, aber die Pflanzreihen jagten vorbei, und im schwindelerregend bemessenen Rhythmus der Perspektiven drehten, öffneten und schlossen sie sich wieder, während ich mitten durch die Felder schoss. Ich beschleunigte, fühlte mich aber immer noch so, als wäre ich ausgerutscht und fiele rücklings hin. Wie jemand, der auf einem Jahrmarktkarussell fährt, empfand ich die seltsame Befriedigung, dass all das dazu bestimmt war, einem Schauder und Vergnügen zu bereiten, und bald vorüber wäre. Ich fragte mich, ob das bedeutete, dass ich sterben würde. Ich hatte keinen Grund, das anzunehmen, aber ich fragte es mich trotzdem. Ich trat das Pedal durch und blickte starr geradeaus, während mir der Schrecken des Schnellfahrens die Nebenhöhlen frei machte und mich auf der Zunge Pennys schmecken Heß. Und ich flog wie ein Speer durch die winzigen Dörfer, Miniaturen in einem Bild von akribischem Gleichmaß, wie sie da über den Mais- und Sojafeldern schwebten, jagte durch sie hindurch auf einen erschütternden, gewaltsamen Ausgang zu – mir das Herz herausreißen zu lassen und zuzusehen, wie es verspeist wurde. Die Sonne war untergegangen, aber die Felder hatten sich im Dämmer mit Licht vollgesogen. Ich wollte ans Ufer dieses sinnlosen Glanzes torkeln und hineinwerfen, was mir das Liebste war, was mir am meisten bedeutete. Als mich die Raserei erschöpft hatte, fuhr ich an den unkrautbewachsenen Straßenrand. Mitten auf der runden, schimmernden Tafel der Erde stoppte ich den Wagen. Indessen wollte der Dämmer nicht weichen. Alles war sichtbar, und es war sogar hell genug, dass ich auf der Schrift der Friesland-Gemeinschaft den Titel lesen konnte: «Kommet zum Vater.»
    Ich nahm sie vom Armaturenbrett und las die paar Absätze. Ich stellte fest, dass mich enttäuschte, was da geschrieben stand. Der Verfasser betonte, dass es auf ein inneres Bekehrungserlebnis ankam. In dem geistigen Zustand, in dem ich mich befand, hatte ich mir sehr viel ungewöhnlichere und weniger platte Mahnungen erhofft: «Auf braune Schuhe kommt es an.» – «Entscheidend ist die Länge der Fingernägel.» – «Alles hängt vom Himmel ab.»
    Kurz davor, mit Flower zu schlafen, hatte ich sie nicht nackt gesehen. Mehr als einmal hatte ich sie völlig entblößt gesehen, aber nicht diesmal. Wir hatten ihren Kittel aufgeknöpft, mehr nicht. Diesmal war der Entblößte ich gewesen. Nackt auf eine zugleich überraschend jähe und lang vorausgesehene Weise. Hatte Flower das bewirkt? Oder war es
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