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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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    S eit früher Jugend verbinde ich alles, was mit Universitäten, dem «akademischen Leben», zu tun hat, mit bestimmten Bildern, die mir wahrscheinlich durchs Fernsehen zugetragen wurden, insbesondere durch Filme aus den dreißiger Jahren, die, als ich ein Kind war, ständig liefen, und vor allem mit einer Szene: Rotwangige junge Menschen betreten an einem Herbstabend das Haus eines verehrten Professors und versammeln sich vor dem Kamin. Ich rieche den Rauch des Novemberfeuers in ihren Kleidern und den aromatischen Pfeifentabak des Professors, und ich empfinde die allgemeine, unbefangene Wonne von Jugend, Herbst, von College – die Wonne dieses Lebens. Nicht dass ich dieser Phantasie je erlegen oder auch nur besonders von ihr angezogen gewesen wäre. Nur schloss ich daraus, dass sie irgendwo Wirklichkeit war. Meine eigene Studienzeit erstreckte sich über sechs, sieben Jahre, unterbrochen von Phasen des Geldverdienens und vom Wechsel erst an ein zweites, dann an ein drittes College, und ich erinnere mich an das alles als eine einzige Abfolge von Leistungsnachweisen und Prüfungen. Ich ging nicht zu den Footballspielen. Ich erinnere mich an keine Novemberfeuer. Einige meiner Lehrer beeindruckten mich oder flößten mir sogar Ehrfurcht ein, und ihr Einfluss prägte mich wie alles andere, was mir widerfahren ist, aber nie warf ich in eines ihrer Häuser einen Blick. Dies vorweg, um zu sagen, dass es mich dann doch überraschte, mit welcher Dankbarkeit ich der Aufforderung, an einer Universität zu lehren, folgte.
    Als sich die Gelegenheit dazu bot, war ich fast fünfzig. Nach dem Studium hatte ich über ein Jahrzehnt lang an Highschools unterrichtet und in den Sommern meine Promotion vorangetrieben. Eines Tages schrieb ich an einen Präsidentschaftskandidaten, um ihm Tipps in Programm- und Strategiefragen zu geben (es handelte sich um Senator Thomas Thom aus Oklahoma; er schied schon früh in den Vorwahlen aus), und obwohl ich mir nicht hatte vorstellen können, dass Leute, die solche Briefe schreiben, jemals beachtet, geschweige denn beschäftigt werden, verwandelte ich mich im Nu von Mr. Reed, dem Sozialkundelehrer, in Mike Reed, den Redenschreiber, Stabsleiter und heimlichen Beichtvater, und verbrachte beinahe zwölf Jahre in Washington. Ich kündigte, kurz nachdem Senator Thom seine fünfte Amtszeit angetreten hatte. Den Job an der Universität nahm ich an, als meine Buchidee auf Ablehnung gestoßen war – ich hatte mich angeboten, Zeugnis vom korrumpierenden Einfluss der Macht abzulegen, aber offenbar gab es an solchen Zeugen keinen Bedarf.
    Also fand ich mich bei den Komparatisten im Gebäude der Geisteswissenschaften wieder, obwohl ich eigentlich Assistenzprofessor für Geschichte war. (Die geisteswissenschaftliche Fakultät hatte man vor langem zugunsten mehrerer größerer Institute aufgelöst; das alte Gebäude beherbergt jetzt Fächer, die beim Kampf um die Etats auf sich gestellt sind, bezuschusste Studiengänge und dergleichen, Projekte, die ihre Fördermittel aufzehren und langsam eingehen. Irgendwie wurde dort auch das Historische Institut angesiedelt.) Ich veranstaltete kleine Seminare, forderte kluge, aber orientierungsbedürftige Studenten zur Lektüre von Büchern auf, die ich schon kannte, und hörte dann zu, wie sie ihre Referate vor dem Rest der Schar zur Diskussion stellten. Mit anderen Worten, ich tat gar nichts. Das hätte einer leuchtenden Zukunft an diesem Ort nicht im Geringsten im Weg gestanden, aber ich kümmerte mich auch nicht um die andere Seite des Tagesgeschäfts, die Sitzungen, den Schreibkram und so weiter.
    Vier Verlängerungen waren ungefähr das Limit für diese Art von Stelle, und ich näherte mich dem Ende meiner dritten. Anfang des übernächsten Jahres würden sie mir den Laufpass geben. In der Zwischenzeit machte ich Ferien.
    Aber Leute in Positionen wie meiner müssen nach neuen Ausschau halten, weshalb ich mich eines Abends im Haus von Ted MacKey, dem Leiter der Musikhochschule, einfand und dort mit zehn anderen zu Abend aß. Das Drumherum kam der Dreißiger-Jahre-Kintoppversion dieses Lebens nahe: Draußen fiel Schnee auf die nächtliche College-Stadt, die auch noch mit dem Klingeln von Schlittenglocken und den Liedern junger Sternsinger aufzuwarten drohte, während wir drinnen im landsitzgroßen Haus Rumpunsch tranken und um ein warmes Feuer saßen, ein Feuer, das unter dem schimmernden Kaminsims hervor ein changierendes Licht auf
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