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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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denke ich, ich erinnere mich an ein anderes kleines Mädchen. Ein beinahe trauriges kleines Mädchen, das mich beobachtet hat. Damals dachte ich nicht an Traurigkeit, darum weiß ich es nicht, aber ich glaube fast, sie war traurig. Und hier ist das, woran ich mich sonst noch erinnere:
    An jenem Morgen spielte ich im Garten. Ich war dabei, irgendetwas auszuhecken. Rings um den Garten war ein etwa ein Meter achtzig breites Blumenbeet angelegt, an der ganzen Hohlziegelmauer entlang, die den Garten umgab. Es war Frühling. Ich schaute prüfend auf die Erde, wo, wie ich irgendwie noch wusste, ohne mich eigentlich daran erinnern zu können, meine Mutter, meine Schwestern und ich im Herbst Blumenzwiebeln eingesetzt hatten, Tulpen, und ich ahnte, dass die jetzt dort, direkt unter der Erde, wuchsen. Ich wollte graben und nachschauen. Heckte das zumindest aus. Mir war egal, ob ich den Tulpen damit schaden würde.
    Ich sah den Mann in einer Ecke des Gartens stehen. Er war durch das Blumenbeet gegangen, seine Fußabdrücke waren darin so klar und deutlich umrissen wie die in einem Cartoon oder Comic-Heft, große, komische Abdrücke von Schuhen mit nichts drum herum. Ich nehme an, es war ein kleiner Mann. Jedenfalls weiß ich, wie er auf mich wirkte – ich kann die Augen zumachen und sehe ihn sofort. Er scheint genau die richtige Größe zu haben, eine angenehme Größe, nicht die einschüchternde Größe der meisten Erwachsenen.
    Sein Kopf ist sehr schmal, schmal wie eine Art Keil. Er schaut mich an, er hat mich schon beobachtet, als ich die kahlen Blumenbeete gemustert habe, und er sagt:
    ‹Wenn ich ein Mädchen wäre, würde ich eine Blume sein wollen.›
    Blitzschnell antworte ich ihm: ‹Ich bin eine Blume!›
    ‹Eine Blume bist du?›
    Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich hatte mir gewünscht, er würde sagen: ‹Ja! Natürlich bist du eine Blume!›, aber so hatte das nicht gerade geklungen, oder?
    Ansonsten habe ich nicht mehr viel von ihm vor Augen, nichts, von dem ich sicher sagen könnte, genau so war es auch. Ich glaube, er hatte braune Cordhosen und einen zerschlissenen Pullover an, aber kann sein, dass ich mir das später hinzuphantasiert habe.
    Er sagte: ‹Ich kann dich auf die Mauer setzen. Kann ich dich auf die Mauer setzen? Ich lass dich auch nicht runterfallen.›
    Meine Mom war vielleicht nur fünfzehn Meter entfernt in der Küche. Sie hatte die Anlage aufgedreht und hörte Musik, laute Musik –»
    (Ich unterbrach sie. «Was für Musik?», fragte ich. «Hippie-Rock», sagte sie. Ich sah ein, dass es so gewesen sein musste – trotzdem stellte ich mir das Lied der Friesländer vor.)
    «Als ei mich auf die Mauer gesetzt hatte, sagte er zu mir: ‹Ich kann klettern.›
    Er kletterte hoch. ‹Schau, wie ich klettern kann.›
    Und dann sprang er auf die andere Seite und sagte: ‹Kann ich dich von der Mauer runterheben? Komm.›
    Er zeigte mir ein Auto, das auf dem ungeteerten Weg zwischen den Häusern geparkt war. Er sagte: ‹Das da ist mein Auto.› Ich erinnere mich nicht daran, wie es ausgesehen hat.
    Ich erinnere mich auch nicht, in diesem Auto gewesen oder gerollt oder irgendwo hingefahren zu sein. Ich erinnere mich an einen Wald um uns herum, erinnere mich daran wie an eine Geschichte, die ich schon immer kannte, wie an die Begegnung mit einer Berühmtheit, die jeder kennt. Der berühmte Wald. Der Wald aus Märchen und Gutenachtgeschichten.
    Ich erinnere mich an das Innere eines kleinen Zimmers mit einer sehr niedrigen Decke, und ich erinnere mich, gewusst zu haben, dass es sein Haus war, wo ich auf einem kleinen Stuhl saß und er auf einem großen, ein Lebkuchenhaus. Und jedes Mal, wenn ich seitdem Lebkuchengewürz rieche, überkommen mich diese Erinnerungen so heftig und so schnell, dass mir schwindlig wird.
    Ich weiß nicht mehr viel von der Zeit, die ich dort verbracht habe. Ich weiß, dass wir uns unterhielten oder dass er Dinge zu mir sagte, die ich nicht sehr wichtig fand. Ich wartete auf etwas anderes, wartete, dass irgendjemand kam, irgendein Ereignis eintrat, irgendeine Show begann – was ich empfand, war das: Ich wartete. Dieser Teil, das Dasitzen, zählte nicht, weil ich auf etwas anderes wartete.
    Ich glaube, wir haben lange so dagesessen. Vielleicht Stunden. Ich war mehrere Stunden lang verschwunden, das weiß ich genau, und ich erinnere mich, nichts anderes gemacht zu haben, als in diesem winzigen Zimmer zu sitzen, das wie das Innere eines Pilzes aussah, und zu denken: Das
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