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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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einzige Mensch im einzigen Wagen zwischen Horizont und Horizont, und abermals wendete und nach Hause fuhr, obwohl ich doch zu ihr zurückwollte, mich aber nicht traute.
    Nun werde ich mich unterbrechen, und ich weiß nicht, wie ich das anders klarmachen soll, als indem ich es einfach sage.
    Wenn ich die Seiten über diese Erinnerung durchsehe, merke ich, dass ich Sie in die Irre geführt habe. Ich habe den Eindruck erweckt, ich wollte von einem One-Night-Stand berichten, und dass das, worum es zwischen Flower und mir hauptsächlich ging, der Verlust einer Art Jungfräulichkeit meiner mittleren Jahre gewesen wäre. Ich habe so getan, als hätte ich seit dem Verlust meiner Frau nichts mehr mit Frauen zu tun gehabt. Aber das stimmt nicht.
    Die schlimmste Phase meiner Labilität hatte ich nach zwei Jahren überwunden. Ich würde nicht einmal einen hochbezahlten Therapeuten mit den Details meines Liebes- oder Sexuallebens in dieser Zeitspanne behelligen wollen, denn ich hätte nichts anderes zu sagen, als dass es sich auf weit weniger als nichts belief – das heißt, ich konnte in den zwei Jahren, nachdem ich Witwer geworden war, nicht einen einzigen sexuell gefärbten Gedanken ertragen, mir nicht eine einzige Begierde auch nur vorstellen. Nicht allein, weil ich mich aus Trauer meiner Frau gegenüber loyal verhielt, sondern auch deshalb, weil der Tod so eine physische Tatsache ist. Ich wollte nichts mit physischen Tatsachen zu schaffen haben. Mir waren ja auch die Dinge zuwider, die diese Tatsachen begründeten, und im Stillen hasste ich die Wahrheit selbst.
    Diese zusätzliche Dimension der Einsamkeit, der Ekel vor der Welt und zunächst sogar vor den Bestandteilen, aus denen sie sich zusammensetzt, kam mir damals einzigartig vor. Aber heute denke ich, er war absolut charakteristisch, und was mich vor allem ekelte, war die Einsicht, dass alles vergänglich ist.
    Das wurde mir aber nicht erst bewusst, als ich mit Flower darauf wartete, dass irgendetwas zwischen uns geschah. Und sie war auch nicht die Frau, die bei mir das Eis gebrochen hat. Ungefähr einen Monat nach dem zweiten Jahrestag meiner Witwerschaft ging ich zu einer Prostituierten. Vielmehr kam sie zu mir, kam in mein Hotelzimmer in Washington, wo ich auf Kosten des Senatsausschusses für Ethikfragen, der dort Anhörungen veranstaltete, wohnte. (Ich war zwar nach Washington einbestellt worden, musste aber nicht aussagen.) Eine hochgewachsene Frau in den Dreißigern, die einzige Prostituierte, die ich je als solche kennengelernt habe. Ich erklärte ihr meine Situation, und sie war sehr verständnisvoll, weigerte sich sogar, Geld zu nehmen, und wir schliefen miteinander. Das heißt, zunächst weigerte sie sich, Geld zu nehmen, aber hinterher fragte sie sich plötzlich, ob ich sie nicht mit meiner tränenseligen Geschichte hereingelegt hatte, und bestand aus Gründen des Prinzips auf Bezahlung. Schließlich fand sie, dass ich über ein so reales Lebensereignis so falsch gar nicht hätte berichten können, und wollte das Geld nicht haben. Nun bestand ich darauf. Also nahm sie es. So war das.
    Ich kam mir weder wie ein Fiesling vor, noch fühlte ich mich befleckt. Ich wusste, ich war mit einer Frau zusammen gewesen, wir hatten einander etwas bedeutet, wenn auch vielleicht nicht viel, und dann war sie weitergezogen.
    Damit hat das hier also gar nichts zu tun.
    Ergibt das, was ich berichte, Sinn? Drücke ich mich deutlich aus? Oder druckse ich herum? Ich denke, es besteht die Chance, dass das hier nützlich ist. Deshalb schreibe ich es auf. Es dient nicht nur der Nabelschau. Aber bin ich vielleicht zu tiefschürfend? Zu sehr mit mir beschäftigt?
    Die Ansätze ihrer Schlüsselbeine waren im Halsausschnitt des Kittels zu sehen, und dicht darunter die Leberflecke und anderen Hautunreinheiten über ihrem Brustbein. Meine Frau und mein Kind tot sein lassen. Ich glaubte nicht, dass ich dafür grausam genug wäre. Denn genau das zu tun, forderten mich die Unreinheiten in Flowers Haut auf. In einem gewissen Sinne mussten Anne und Elsie getötet werden, und sie zu töten oblag mir.
    Ich musste gegen die Spannung angehen, gegen diese Mischung aus Begierde und Scham, musste irgendetwas sagen. «Ich würde gern die Sätze in den Umschlägen lesen. Lassen Sie mich doch mal sehen, was die anderen so geschrieben haben.»
    «Das geht leider nicht.»
    «Warum?»
    «Weil diese Worte, wenn sie dann wieder in dem Kästchen verschlossen sind, nicht mehr an einem dunklen Ort sein werden.
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