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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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keine Sorgen», sagte er zu uns allen, seinen Freunden, mir, dem Polizisten, dem Sternenhimmel, «ich glaube, er ist bloß schizophren. Wir kriegen das schon geregelt.»
    Vor Anbruch der Morgendämmerung verließ ich die Stadt. Ich hörte nie wieder etwas von der Sache. Offenbar kann man sich der Bestrafung von derart geringfügigen Vergehen durchaus entziehen.
    Ich fuhr nicht gleich aus der Stadt hinaus. Ich machte einen kleinen Abstecher, um mir das Mysterium, ich drücke es vielleicht mal so aus, zweier persönlicher Symbole anzusehen: den Monolithen und den kreisförmigen Schlittschuhteich – jetzt, im Sommer, ein flacher Tümpel, in dem sich der Mitternachtshimmel spiegelte. Mein Wagen parkte mit offener Fahrertür, das Innere dämmrig erleuchtet, etwa hundert Meter entfernt in einer Ladezone hinter dem Gebäude der Studentenvertretung. Ich stand am Geländer und sah auf die Schwärze des Alls und die silbernen Wolken, die zu meinen Füßen vorbeitrieben. Die Sommerkurse hatten noch nicht angefangen, um zwei Uhr morgens hielt sich hier keine Menschenseele auf, und schon gar keiner lief Schlittschuh. Und ich vermisste sie, vermisste die Neugier, das Fremdheitsgefühl und die Hoffnung, mit denen ich in dem Film, in dem ich kurz vor seinem Ende aufgetreten war, die Winterluft eingeatmet hatte. Ich vermisste das Verlangen.
    Während ich das schreibe, dringt eine mediterrane Brise durchs geöffnete Fenster. Ich schreibe halb nackt, in weißen Socken und weißen Boxershorts, beides in Athen gekauft. Ein Stapel Bücher beschwert das Maschinenpapier; obendrauf liegt ein Brocken der Berliner Mauer, jedenfalls halte ich ihn gern dafür. Ich habe ihn vergangenen Oktober an einem mit Gin-Rommé, auch mit Gin und Wermut, verbrachten Nachmittag einem Journalisten abgewonnen. Dieser Tage, und schon seit einiger Zeit, bin auch ich Journalist.
    Eigentlich habe ich hier, weitab vom griechischen Festland, Station gemacht, um einen längeren Artikel zu schreiben, einen historischen Abriss der slawischen Konflikte. Doch die Bücher, Landkarten, Notizen liegen einfach nur da. Vom ersten Tag an habe ich nichts anderes gemacht, als mich an das Vergangene zu erinnern. Die leichte Brise hier riecht, als wäre sie meilenweit über jungen Sommermais gestrichen. Der Himmel hat die gnadenlose Leere, die ein Himmel an einem heißen Tag über endlosen Farmen haben kann. Diese Insel ist ein großer, karger, einsamer Felsen, der nach einem Steinmetz schreit. Nach Süden und Westen hat sie keine Nachbarn. Und mein Fenster geht dort hinaus. An jedem windstillen Tag, wenn das Meer ruhig ist, sieht der Horizont aus wie der der gezähmten, unterjochten mittelwestlichen Prärien, mit denen ich mich eine Zeitlang ganz bewusst umgeben habe.
    Aus dem Mittleren Westen bin ich ohne Abschied fort. Ungefähr drei Monate, den Rest jenes Sommers bis in den Herbst, lebte ich in einem umgebauten Bootshaus in Hyder, Alaska, in dessen südlichster Region, einem Küstenstreifen entlang der Grenze zu British Columbia. Ich verbrachte die Tage mit Lesen und dem Hören von Musikkassetten. Ich tat wirklich fast nichts anderes. Eines Abends ungefähr um zehn, als die ungeheuer rote Gegenwart des Sonnenuntergangs in das große Atelierzimmer einbrach und ich gerade dabei war, mich über die Wanne zu beugen und den Stöpsel hineinzustecken, da ich ein Bad nehmen wollte, fiel mir ein Tropfen Flüssigkeit aufs Handgelenk, und dann noch einer. Ich sah nach oben, um herauszufinden, ob irgendein Rohr über mir leckte, und da spürte ich sie: Tränen, die mir die Wangen hinunterliefen. Ich sank auf die Knie, mit hängendem Kopf, das Gesicht zur Wanne, und schluchzte in dieser Haltung los, heulte und zitterte wie ein Kind, bis die Sonne untergegangen und es dunkel war … Als ich an der Lampenschnur zog, sah ich, dass ich so heftig und lange geweint hatte, dass ein winziger Strom meiner eigenen Tränen, genug, um ein Schnapsglas zu füllen, im Wannenabfluss stand. Kurz davor, den Stöpsel zu ziehen, besann ich mich eines Besseren. Ich drehte den Hahn auf, ließ die Wanne volllaufen, zog mich aus und badete, erschöpft von Trauer und Freude, bis das Wasser kalt war.
    Im folgenden Winter nahm ich einen Auftrag an, über den Golfkrieg zu berichten. Sechs Tage vor Beginn der von der UNO sanktionierten Bombardierung traf ich im saudiarabischen Dhahran ein. Bald explodierten Scud-Raketen über der Stadt.
    Seitdem habe ich ständig neue Aufträge angenommen. Ich studiere gewissermaßen
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