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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper
Autoren: Paolo Giordano
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er einen Betreuer, einen jungen Mann mit wirrer, dichter schwarzer Mähne und verträumtem Blick. «Ich bin von der Pfarrgemeinde», erklärt er. «Ich komme zwei Nachmittage in der Woche, Donnerstag und Samstag. Mit Angelo hat man nicht viel zu tun. Ich kann fast die ganze Zeit lesen.»
    Egitto kommt in Zivil, er sagt, er sei ein Freund (es gibt einen Rechtsstreit mit der Familie des Soldaten, und er befürchtet, sein Besuch könne nicht erwünscht sein). Vielleicht deswegen fügt der ehrenamtliche Pfleger hinzu: «Dieser verdammte Krieg. Ich bin natürlich Pazifist, versteht sich.» Er schaut auf die Wanduhr, eines der wenigen Dinge, die die Wand zieren. «Sein Mittagsschläfchen ist eigentlich noch nicht zu Ende, aber ich kann ihn aufwecken. Angelo wird sich freuen, wenn er Gesellschaft hat. Hier kommt ja nie jemand vorbei.»
    «Ich habe keine Eile. Ich warte.» Egitto rückt einen Stuhl vom Tisch ab und setzt sich.
    «Mit den Alten geht es genauso», fährt der Freiwillige fort. «Wir von der Pfarrgemeinde gehen auch in die Altenheime, müssen Sie wissen. Wenn die ersten Monate um sind, verlieren die Leute die Motivation. Da ist nur ein Mädchen, das weiterhin kommt. Das heißt, ziemlich oft. Sie heißt Elena, kennen Sie sie?»
    «Ich fürchte, nein.»
    «Sie ist hübsch. Ein bisschen dick.» Er wartet, ob Egitto sein Nein durch Kopfschütteln bekräftigt. «Jedenfalls setzt sie sich zu Angelo und liest ihm Bücher vor. Es ist ihr gleich, ob er sie versteht oder nicht, sie liest einfach weiter.» Mit einer Hand packt er die Haarsträhne, die ihm in die Stirn fällt, und zieht sie nach oben, sodass sie einen Moment lang senkrecht in die Höhe steht. «Wie lang haben Sie ihn schon nicht gesehen?»
    «Über ein Jahr.»
    Um genau zu sein, seit Oktober vor zwei Jahren, als Torsus Körper, eingewickelt in die silberne Thermodecke, an Bord eines Black Hawk in den Himmel aufstieg. Aber er hat keine Lust, das dem Pazifisten zu sagen.
    «Dann werden Sie ihn sehr verändert finden, Herr … Herr?»
    «Egitto, Alessandro.» Das Gesicht des Jungen verfinstert sich. Er mustert ihn ein paar Sekunden lang, als hätte er eine Verbindung hergestellt. Vielleicht ist er über alles im Bilde. Egitto macht sich auf seine Reaktion gefasst. «Sind Sie auch Soldat?»
    «Ich bin Arzt.»
    «Und diese Verbrennungen, wie haben Sie sich die zugezogen?»
    Das ist ein Missverständnis. Egitto lächelt ihm zu, die Entschuldigung vorwegnehmend, die, wie er annimmt, gleich folgen wird. Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. «Nein, das hat mit Verbrennungen nichts zu tun.»
    Der Junge ist sichtlich neugierig, aber zu gut erzogen, um weiter in ihn zu dringen. «Sagen Sie mir eins, Herr Doktor», fragt er dagegen, «wie hat Angelo so verschwinden können?»
    «Verschwinden?»
    «Er ist … weggegangen. Als ob er es beschlossen hätte. Das glaube ich zumindest. Er hat sich irgendwo versteckt und will nicht mehr herauskommen. Wie ist das möglich, Herr Doktor?»
    Mit einem Mal spürt Egitto die Müdigkeit von der Reise. «Ich weiß es nicht.»
    Der Freiwillige schüttelt den Kopf. Von einem Arzt erwartet er sich umfassendere Auskünfte. «Nur der Herr weiß, wo er sich aufhält.»
    Dann warten sie noch schweigend, bis die Zeiger an der Uhr genau sechzehn Uhr anzeigen. Der Junge schnalzt mit den Fingern. «Es ist so weit, ich gehe ihn wecken.»
    Ein paar Minuten später kommt er wieder, er hält Torsu am Ellbogen, als ob er ihn stützen müsste, dann, als würde er ihn führen. Egitto fragt sich, ob die minimale Lippenbewegung bei dem Soldaten der Ansatz zu einem Gruß oder einem Lächeln ist, das allerdings eingefroren scheint. Er steht auf und zupft sich die Jacke zurecht, fasst seine Hand und schüttelt sie.
    Egitto ist nicht imstande, sich mit jemandem zu unterhalten, der nicht antwortet, dazu ist seine Verlegenheit zu groß. Das geht ihm so mit Grabsteinen, besonders dem von Ernesto, auch mit Neugeborenen und sogar mit von der Narkose noch benommenen Patienten. Und auch jetzt, in dem kahlen Wohnraum, wo niemand ist, der ihn in Gesellschaft von Angelo Torsu beobachtet – der Freiwillige hat sich in die Küche zurückgezogen, um sie allein zu lassen –, bringt er kein Wort heraus. Also schweigen sie. Sie stehen ganz einfach nebeneinander am Fenster.
    Am Morgenmantel des Obergefreiten steckt eine Nadel von der Armee. Ein Kamerad muss sie ihm vor wer weiß wie langer Zeit mitgebracht haben, und dann hat sich niemand darum gekümmert, sie
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