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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper
Autoren: Paolo Giordano
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abzunehmen. Egitto fragt sich, ob ihn sein Besuch freut. Wahrscheinlich ist es ihm vollkommen gleichgültig. Wir gehen davon aus, dass ein Mensch, der sich nicht ausdrückt, jede Verbindung zu seinem vergangenen Leben und unsere Aufmerksamkeit schätzt, dass er ans Fenster gehen möchte, nur weil wir beschließen, ihn dorthin zu führen, aber wir wissen es nicht wirklich. Vielleicht will Torsu in seinem Zimmer in Frieden gelassen werden, allein sein.
    Er kann noch sehen. Jedenfalls ziehen sich die Pupillen zusammen, wenn die Intensität des Lichts zunimmt. Es ist die glatte Haut an den Wangen und am Hals, die sein Gesicht unstimmig macht. Man hat einen Hautlappen vom Hintern genommen und ins Gesicht transplantiert. Ein Wunderwerk der modernen Chirurgie – eine Abscheulichkeit. Angelo Torsus Körper funktioniert, aber so, als wäre er mittlerweile unbewohnt. Er kaut andauernd auf etwas herum, das er nicht zwischen den Zähnen hat, wie ein zähes Stück Fleisch oder das Wort, das er seit Monaten nicht aussprechen kann. Im Übrigen scheint er ruhig, er schaut auf die Straße, auf der nur selten Autos vorbeifahren.
Der Herr weiß, wo er sich aufhält
. Irgendjemand muss es ja wissen.
    Egitto lässt etwas Zeit verstreichen, so viel, wie ihm angemessen erscheint. Er hat den Eindruck, dass seine Atemzüge und die Torsus synchron sind. Er weiß nicht, ob einer der beiden dem anderen gefolgt ist oder ob sie diesen Einklang gemeinsam zuwege gebracht haben. Als die Situation, sich in diesem Haus zu befinden, zu absurd wird, hebt er die Tüte vom Boden auf, die er mitgebracht hat. Er holt eine verpackte rechteckige Schachtel heraus und reicht sie dem Soldaten. Da er sie nicht nimmt, stellt er sie auf das Fensterbrett. «Es sind Fruchtbonbons», sagt er. «Es gab eine Zeit, wo ich nur die essen konnte. Ich hoffe, du magst sie auch.» Er forscht in Torsus Gesicht nach einem Zeichen. Der Soldat käut wieder, abwesend. Vielleicht müsste er das Papier aufreißen, ein Bonbon herausnehmen und ihn kosten lassen. Doch darum kümmert sich besser der Freiwillige. «Ich bringe dich in dein Zimmer zurück. Du wirst müde sein.»
    Er wird kein zweites Mal hinfahren. Aber einige Jahre lang wird er dem Obergefreiten an Weihnachten eine Schachtel der gleichen Bonbons schicken, zusammen mit einer lakonischen Glückwunschkarte, bis einmal beides zurückkommt mit dem postalischen Vermerk, Empfänger unbekannt – da wird er sich nicht darum kümmern, die neue Adresse ausfindig zu machen. Zusammen mit einer gewissen monatlichen Summe seiner Bezüge wird das die einzige verbleibende Verbindung zu dem Mann sein, den er zum Tode verdammt hat, zu dem Mann, dem er das Leben gerettet hat. Egitto wartet, dass die Zeit diesen Gewissensbiss langsam abträgt.
     
    Nach den vier Monaten Suspendierung kommt der Tag, an dem er in den aktiven Dienst zurückkehrt. Er ist etwas nervös, als er die Straße hinaufgeht, die zur Kaserne des Siebten Regiments der Alpini führt. Der erste Tag am Gymnasium, die Vereidigung, die Verleihung der Doktorwürde: Es ist eine Erregung dieser Art, die ihn verwirrt und belebt.
Emotion
wäre ein passenderer Begriff als
Erregung
, aber er verwendet ihn mit Zurückhaltung.
    Er macht einen Augenblick halt, kurz bevor er unter den Achseln zu schwitzen beginnt. Er hebt den Blick zum grauen Massiv des Schiara. Die Wolken lagern sich um den Gipfel, als ob sie plaudern würden. Wenn die Berge in Turin eine ferne Grenze waren, die im Dunst auftauchte und verschwand, wenn sie in Gulistan nichts weiter waren als eine unnahbare Wand, ist es hier in Belluno so, als bräuchte man nur eine Hand auszustrecken, um sie zu berühren.
    Der wachhabende Soldat legt die Hand an die Stirn, er bleibt stramm stehen, während der Oberleutnant vorbeigeht. Egitto wird zu seinem neuen Büro begleitet, im ersten Stock des Hauptgebäudes. Im Zimmer nebenan spricht jemand am Telefon mit deutlichem Trientiner Akzent und lacht häufig. Egitto tritt ans Fenster, das auf den von Pappeln gesäumten Appellplatz geht. Das ist eine gute Lage, er wird sich wohl fühlen hier.
    «Herr Oberleutnant?»
    Ein Unteroffizier steht an der Schwelle in der Haltung dessen, der anklopfen will. Wer weiß, warum er es dann nicht getan und ihn angeredet hat. «Ja, bitte?»
    «Willkommen. Der Kommandant hat nach Ihnen gefragt. Wollen Sie mir folgen?»
    Egitto nimmt den Hut, den er auf dem Tisch abgelegt hatte, und setzt ihn schräg auf den Kopf. Sie steigen zwei Stockwerke hinauf und
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