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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper
Autoren: Paolo Giordano
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einiger Zeit wird vielleicht jeder von ihnen eine Bedeutung bekommen haben.
    Bisher hatte er noch nie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, sich fest niederzulassen. In der Kaserne zu wohnen, gab ihm das Gefühl des Provisorischen, und er ging wie selbstverständlich davon aus, dass das der optimale Zustand für ihn sei, der einzig mögliche. Er hat Mühe, diese Vorstellung von sich selbst aufzugeben, aber wenn es nur danach ginge, wie er sich jetzt fühlt – in Frieden, frei, mäßig heiter, abgesehen von gewissen Stimmungsschwankungen –, könnten ihm Zweifel kommen, ob er sich nicht jahrelang getäuscht hat. Es könnte sein, dass auch Alessandro Egitto wirklich dafür geschaffen ist, auf der Welt zu sein wie alle anderen menschlichen Wesen: bequem an der Oberfläche schwimmend.
    Im Viertel fängt man an, ihn zu kennen. Wenn er ein Stück von sich preisgibt – dem Jungen in der Bar, den beiden einsamen Angestellten in der Bankfiliale, der Frau in der Wäscherei mit dem verbundenen Handgelenk nach einer Operation wegen des Karpaltunnelsyndroms –, wird er mit ein wenig gesteigerter Vertraulichkeit belohnt. Es handelt sich um den langsamen Prozess einer gründlichen Ausmerzung von Misstrauen: den Aufbau einer Sicherheitszone, deren theoretisch einzige Grenze das weiß gesäumte Rund der Dolomiten ist.
    Die freie Zeit, die ihm nach der Einrichtung der Wohnung bleibt, verwendet er im freiwilligen Einsatz bei der lokalen Blutspendeeinheit. Die mobile Einheit wird jeden Tag an einem anderen Ort aufgestellt, und durch die Tür beobachtet der Oberleutnant verschiedene Formen des Gemeinschaftslebens, Menschen fernab von Kampfgeschehen, jedoch jeder durchlebt seine eigene Form des Krieges. Es sind nicht viele, die die Metallstufen hinaufsteigen, um ihren Arm seiner Nadel preiszugeben, im Allgemeinen erweisen sich die alten Leute als großzügiger als ihre Enkel, aber das ist nur eine Frage der Weisheit, denkt er – die Jungen wissen noch nicht, mit welch enormem Druck das Blut durch die Adern läuft und wie schnell es herausspritzt, wenn eine davon angeschnitten wird.
    Ein paarmal geht er mit den Krankenpflegern, mit denen er Dienst tut, abendessen. Es sind ruhige Abende, wenigstens so lange der Alkohol sie nicht zumindest ein bisschen auflockert. Die Jungs verspüren weder das Bedürfnis, etwas von Egittos Erlebnissen zu erfahren, noch, nach dem Motiv zu fragen, weshalb er ohne eine feste Anstellung in diese Gegend gezogen ist. Für kurze Zeit ist da sogar eine Freundin. Egitto besucht sie in ihrer Wohnung und sie ihn in seiner, ein paar Nächte jeweils. Aber sie ist noch jung, knapp einundzwanzig Jahre alt, ein Strom an Erfahrungen trennt sie, und beide wissen das. Sie stellen ihren Kontakt ein, ohne Tränenvergießen.
    Manchmal fragt er sich, wo er jetzt wäre, wenn im Tal nicht geschehen wäre, was geschehen ist, wenn sich nicht in einer Nacht wie vielen anderen ein ihm unbekannter Mann in einem LKW auf den Weg gemacht hätte, wenn Angelo Torsu nicht aus einem gepanzerten Jeep hinausgeschleudert worden wäre und Irene Sammartino ihn nicht für das Geschehen mitverantwortlich gemacht hätte. Aber das sind müßige Fragen, und bald beschließt er, damit aufzuhören.
    Chemisch gesehen ist er clean. Wenn er nachts voller Beklemmung aufwacht und nicht wieder einschlafen kann, nimmt er das hin, wandert lang durch die Wohnung und versucht dabei, bewusst zu atmen. Wenn er morgens ohne Kraft und Willen ist und sich aus der Welt gefallen fühlt, verlässt er sich auf die Wiederholung von bestimmten Gesten und wartet ab, dass dieser Zustand vergeht. Das kann womöglich Tage dauern, aber am Ende gelingt es. Die Abstinenz von den Arzneimitteln ist für ihn weder ein Kampf noch eine Eroberung. Er schließt nicht aus, dass er sich ihrer eines Tages wieder bedienen wird, sein Wohlbefinden der Objektivität der Wissenschaft anvertrauend – irgendwo gibt es diesen Raum, der ihm immer offen steht –, aber nicht jetzt.
    Ohne irgendjemandem Bescheid zu geben, nimmt er an einem Wochenende im März ein Flugzeug nach Cagliari. Um zum Wohnort von Angelo Torsu zu gelangen, muss er einen Wagen mieten und von der Hauptstadt aus in Richtung Westen fahren. Er macht einen Umweg, um das Panorama der Küstenstraße zu genießen. Er fährt langsam, fasziniert von der Landschaft und der Brandung des Meers gegen die Felsen.
    In der von der Stadtverwaltung bezahlten Unterkunft, in der Angelo Torsu nach diversen Reha-Aufenthalten lebt, trifft
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