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Zu cool für dich

Zu cool für dich

Titel: Zu cool für dich
Autoren: Sarah Dessen
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Kapitel Eins
    D er Song heißt einfach
Wiegenlied
. Im Laufe meines Lebens habe ich ihn eine Million Mal gehört. So ungefähr jedenfalls. Die Geschichte, wie mein Vater den Song schrieb   – an dem Tag, an dem ich geboren wurde   –, habe ich auch schon ziemlich oft gehört. Meine Mutter und er hatten sich bereits getrennt; er war irgendwo in Texas unterwegs. Angeblich setzte er sich, nachdem er von meiner Geburt erfahren hatte, in irgendeinem Motelzimmer mit seiner Gitarre hin und erfand den Song, eben mal so. Eine Stunde, ein paar Akkorde, zwei Strophen, ein Refrain. Sein ganzes Leben lang machte er Musik, doch am Ende blieb
Wiegenlied
sein einziger Hit. Als mein Vater starb, hinterließ er der Nachwelt also exakt ein Wunderwerk. Oder vielmehr zwei   – sofern man mich mitzählt.
    Auch jetzt, während ich in Dons Autohandlung auf einem Plastikstuhl saß und wartete, ertönte das Lied aus dem Lautsprecher über mir. Es war Anfang Juni und warm draußen, alles blühte und grünte   – der Sommer war so gut wie da. Was gleichzeitig bedeutete, dass es für meine Mutter mal wieder Zeit war zu heiraten.
    Es würde ihre vierte Ehe sein. Beziehungsweise die fünfte, wenn man meinen Vater mitrechnete. Ich tat dasnicht. Meine Mutter schon. In ihren Augen waren sie verheiratet gewesen   – wenn man eine Trauung irgendwo in der Wüste, geschlossen von jemandem, den sie erst kurz vorher an einer Autobahnraststätte kennen gelernt hatten, zählen konnte. Für sie jedenfalls war die Trauung gültig. Aber meine Mutter wechselt ihre Ehemänner wie andere Menschen den Farbton ihrer Haare: aus Langeweile, innerer Unruhe oder weil sie plötzlich das Gefühl überkommt, der nächste sei die ultimative Lösung für sämtliche Probleme. Früher, als es mich tatsächlich noch interessierte, fragte ich manchmal nach meinem Vater, wollte genauer wissen, wie die beiden sich kennen gelernt hatten. Doch sie winkte immer bloß seufzend ab und meinte: »Es waren eben die Siebziger, Remy, du weißt schon.«
    Meine Mutter geht grundsätzlich davon aus, dass ich alles weiß. Aber da liegt sie falsch. Über die Siebziger wusste ich nur das, was ich in der Schule und durchs Fernsehen gelernt hatte: Vietnam, Präsident Carter, Disco. Und von meinem Vater kannte ich im Prinzip nur
Wiegenlied
. Der Song begleitet mich schon mein ganzes Leben lang: als Hintergrundmusik zu Werbespots und Filmen, auf Hochzeiten, als Wunschhit im Radio. Mein Vater mag tot sein, doch diese dämliche Schnulze lebt weiter und wird auch mich noch überleben.
    Als der Refrain zum zweiten Mal aus dem Lautsprecher dudelte, steckte Don Davis, Besitzer von
Don Davis Automobile
, den Kopf aus seinem Büro und entdeckte mich. »Remy, mein Schatz, tut mir Leid, dass du warten musstest. Komm rein.«
    Ich stand auf und folgte ihm. In acht Tagen würde Don mein Stiefvater werden   – sein Eintritt in einennicht sehr exklusiven Club. Aber immerhin war er der erste Autohändler, der Zweite mit Sternzeichen Zwillinge und der bisher Einzige, der über eigene Kohle verfügte. Meine Mutter und er hatten sich in exakt dem Büro kennen gelernt, das ich jetzt betrat; wir waren hergekommen, um einen neuen Toyota Camry für sie zu kaufen. Ich begleitete sie, weil ich meine Mutter kannte. Sie hätte nämlich ohne zu zögern oder zu verhandeln den vorgeschriebenen Listenpreis bezahlt. Und man hätte sie bestimmt nicht davon abgehalten, denn meine Mutter ist so eine Art Berühmtheit, von der jeder automatisch annimmt, dass sie stinkreich ist.
    Der Erste, der uns damals über den Weg lief, war ein Verkäufer, der aussah, als käme er frisch vom College. Er kriegte fast den Mund nicht mehr zu, als meine Mutter schnurstracks auf ein funkelnagelneues Modell zurauschte und den Kopf durchs Fenster in den Innenraum steckte, um den charakteristischen Neuwagengeruch zu schnuppern. Sie sog die Luft in tiefen Zügen ein und verkündete strahlend: »Den nehme ich!«
    »Mom!« Ich versuchte, nicht mit den Zähnen zu knirschen. Wozu hatte ich ihr schließlich auf der Fahrt zur Autohandlung genauestens erklärt, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollte, damit wir einen guten Deal bekamen? Sie beteuerte zwar, sie würde mir zuhö ren , doch dabei spielte sie die ganze Zeit an meinen automatischen Fensterhebern und den Düsen für die Klimaanlage herum. Was im Übrigen der eigentliche Grund für die Manie war, plötzlich ein neues Auto kaufen zu müssen: Ich hatte nämlich gerade eines bekommen.
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