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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper
Autoren: Paolo Giordano
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freundschaftliche Unterredung ist. Er fordert ihn auf, das Wort zu ergreifen, aber Egitto ist noch versunken in das Bild von Irene, die in einem halbdunklen Zimmer am PC sitzt, die Finger schnell über die Tastatur gleiten lässt und das Dokument dann ausdruckt. Sie beschwerte sich, dass ihr Laptop dauernd beschlagnahmt würde: Man muss ihn ihr zurückgegeben haben.
Ich bin nur eine Angestellte, Alessandro. Wie alle anderen auch.
    «Oberleutnant», drängt der Oberst.
    Warum hat sie das getan? Und warum hat er sie nicht angerufen? Nein, was für eine Absurdität. Sie hat es getan, weil das ihr Job ist, sie hatte keine andere Wahl. Sie hatte den Auftrag, einen Bericht zu schreiben, und sie hat ihn geschrieben. Irene Sammartino ist ein Vollprofi, sie drückt sich nicht vor der Verantwortung. Sie behandelt die Krankheiten des Systems mit einer Unbestechlichkeit, die ihr verbietet, irgendjemanden im Einzelnen zu betrachten.
    Der Oberleutnant empfindet eine Regung der Zärtlichkeit für sie, wegen der Einsamkeit, zu der das Leben sie verdammt hat: Von Lager zu Lager ziehen, immer unter Unbekannten, Akten anlegen, deretwegen sie dann gehasst wird – zur Staatenlosigkeit verdammt. War es wegen dieser Ähnlichkeit zwischen ihnen, dass sie sich im Dunkel des Zelts so eng aneinanderklammerten? Er kann den Schmerz erahnen, den die Freundin gefühlt haben muss, als sie den Bericht noch einmal las. Vielleicht ist sie in die Küche gegangen, hat sich ein Glas Wein eingeschenkt und es in einem Zug ausgetrunken. Die zeremoniöse Art, wie sie den Kopf nach hinten legt, wenn sie Alkohol trinkt, steht ihm noch ganz klar vor Augen, aber er kann nicht sagen, dass sie ihm fehlen würde, nicht wirklich. Nicht alle Formen der Anhänglichkeit haben etwas mit Sehnsucht zu tun.
    «Erkennen Sie die?»
    Der Offizier links von Caracciolo hat bisher geschwiegen, als hätte er auf den richtigen Augenblick für seinen Auftritt gewartet. Seine Stimme ist höher, als man bei der massigen Gestalt vermuten sollte. Egitto wendet ihm den Blick zu.
    Er hält ein durchsichtiges Plastiksäckchen hoch, das Corpus Delicti. Es enthält eine Handvoll gelb-blauer Kapseln, grob geschätzt die Ration für einen Monat medikamentöser Behandlung. In dem Nylonsäckchen, so zusammengewürfelt, sehen sie harmlos aus, sogar fröhlich.
    «Sind das Ihre, Herr Oberleutnant?»
    «Es waren meine, jawohl.»
    Zufrieden legt der Offizier das Beweisstück auf den Tisch. Die Kapseln machen ein Geräusch wie ein leichtes Regengeprassel. Der Major protokolliert wie ein Besessener.
    Jetzt mustert Caracciolo ihn mit konsternierter Miene. Er schüttelt den Kopf. «Ich bin gezwungen, dich das zu fragen, Alessandro. Wie lange geht das schon mit den Psychopharmaka?»
    Egitto umfasst seine Knie noch enger. Er strafft ein wenig den Rücken. «Ich bitte dich, Oberst, nenn nicht auch du sie so.»
    «Warum, wie soll ich sie denn nennen?»
    «Auf jede andere Weise: Antidepressiva. Medikamente. Sogar Pillen passt. Aber lass den Begriff Psychopharmaka aus dem Spiel. Der beinhaltet ein ziemlich allgemeines moralisches Urteil.»
    «Und meinst du nicht, dass ein moralisches Urteil notwendig wäre?»
    «Aus welchem Grund?»
    «Weil du dieses Zeug nimmst … kurz, diese …»
    «Drogen», suggeriert der Offizier zu seiner Rechten. Der Major schreibt: Drogen.
    Egitto antwortet langsam: «Wenn du das Bedürfnis hast, darüber ein moralisches Urteil zu fällen, steht es dir frei, das zu tun.»
    Mit einem Mal verliert er die Geduld. Und gar nicht wegen der Art und Weise, wie sie ihn foltern, auch nicht wegen der Feindseligkeit, die er bei den externen Kommissionsmitgliedern bemerkt und die sie nicht im Geringsten zu verbergen trachten, und auch nicht, weil sie ihm die Tüte mit dem unwiderlegbaren Beweis seiner Schwäche vor die Nase gehalten haben. Das Problem ist ein anderes. Irene Sammartino, die Disziplinarkommission, die entfernten Verwandten des Obergefreiten Torsu, mit ihrem Hunger einerseits nach Gerechtigkeit, andererseits nach Geld – sie alle haben recht, und diese Entdeckung trifft ihn wie eine schallende Ohrfeige. Er hätte ihm nicht erlauben sollen, mitzufahren. Er hat ihn selbst entscheiden lassen, überzeugt, dass der Körper des Angelo Torsu dem Angelo Torsu gehört und basta, während
er
zu dessen Hüter bestellt war. Er hingegen fand es bequemer, sich abzulenken, er hat sich in eine Schicht aus Indolenz und Selbstmitleid gehüllt.
Müde, nicht sehr klar, sichtlich in einem Zustand
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