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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper
Autoren: Paolo Giordano
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gelernt, den Aufforderungen des Obersten zur Aufrichtigkeit zu misstrauen. Er antwortet: «Vielleicht haben Sie nur versucht, sie zu beschützen.»
    Ballesio zieht ein Gesicht, als hätte Egitto etwas Dummes gesagt. «Mag sein. Besser so. In letzter Zeit habe ich Angst, bei mir könnte ein Schräubchen locker sein, wenn Sie verstehen, was ich meine.» Er streckt die Beine aus und zieht sich ungeniert durch die Hose hindurch den Gummizug der Unterhose zurecht. «Ständig hört man von Leuten, bei denen von einem Tag auf den anderen die Sicherungen durchknallen. Meinen Sie, ich sollte eine neurologische Untersuchung machen lassen? Ein EEG oder so was in der Art?»
    «Ich sehe keinen Grund dafür, Herr Oberst.»
    «Könnten womöglich Sie mich untersuchen? Meine Pupillen anschauen und so weiter.»
    «Ich bin Orthopäde, Herr Oberst.»
    «Aber irgendwas wird man Ihnen doch beigebracht haben?»
    «Ich kann Ihnen einen Kollegen empfehlen, wenn Sie möchten.»
    Ballesio grunzt. Zwei tiefe Falten verlaufen auf beiden Seiten seiner Lippen nach unten wie bei einem Fischmaul. Als Egitto ihn kennenlernte, hatte er noch nicht so verbraucht ausgesehen.
    «Ihre Pedanterie macht mich krank, Oberleutnant, habe ich Ihnen das schon mal gesagt? Es muss daran liegen, dass Sie sich jetzt in diesem erbärmlichen Zustand befinden. Entspannen Sie sich, nehmen Sie die Dinge, wie sie kommen. Oder suchen Sie sich einen Zeitvertreib. Je an Kinder gedacht?»
    «Wie bitte?»
    «Kinder, Oberleutnant,
Kin
der.»
    «Nein, Herr Oberst.»
    «Nun, ich weiß nicht, worauf Sie warten. Ein Kind würde Sie auf andere Gedanken bringen. Ich könnte mir das bei Ihnen durchaus vorstellen, wissen Sie? Ich sehe doch, wie Sie ständig am Grübeln sind. Aber jetzt schauen Sie sich an, wie diese Kompanie dasteht, wie Ziegenböcke.»
    Egitto folgt Ballesios Blick zu der Musikkapelle und darüber hinaus, bis dorthin, wo die Wiese anfängt. Ein Mann im Publikum zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Er trägt ein Kind auf den Schultern und steht steif da, in einer eigenartig kriegerischen Haltung erstarrt. Wenn ihm etwas bekannt vorkommt, macht sich das bei dem Oberleutnant immer in einem gewissen mulmigen Gefühl bemerkbar, und mit einem Mal fühlt Egitto sich unruhig. Als der Mann die geschlossene Faust vor den Mund hält, um zu husten, erkennt er Feldwebel René. «Aber der dahinten, ist das nicht …» Er unterbricht sich.
    «Wer? Was?», fragt der Oberst.
    «Nichts. Entschuldigen Sie.»
    Antonio René. Am letzten Tag haben sie sich am Flughafen mit einem förmlichen Händedruck voneinander verabschiedet, und von dem Zeitpunkt an hat Egitto nicht mehr an ihn gedacht, wenigstens nicht explizit. Seine Erinnerungen an den Einsatz haben vorwiegend kollektiven Charakter.
    Er verliert das Interesse an der Parade und beginnt, den Feldwebel aus der Ferne zu beobachten. Er hat sich in der Menge nicht weit genug nach vorn geschoben, um in die vorderen Reihen zu gelangen, und wahrscheinlich sieht er jetzt nicht sonderlich viel. Von der Höhe seiner Schultern aus zeigt das Kind auf Soldaten und Fahnen, die Männer mit den Musikinstrumenten und packt René an den Haaren, als ob es Zügel wären. Die Haare, genau. Im Tal hatte der Feldwebel sie komplett abrasiert, während sie ihm jetzt fast bis über die Ohren reichen, kastanienbraun und leicht gelockt. René ist noch so ein Flüchtling vor der eigenen Vergangenheit, auch er hat sein Gesicht verändert, um sich nicht wiederzuerkennen.
    Ballesio sagt etwas von einer Tachykardie, die er mit Sicherheit nicht hat. Egitto antwortet ihm zerstreut: «Kommen Sie am Nachmittag zu mir. Ich verschreibe Ihnen ein Beruhigungsmittel.»
    «Ein Beruhigungsmittel? Aber sind Sie denn völlig übergeschnappt? Von dem Zeug wird er schlapp!»
    Drei Jagdbomber ohne Bewaffnung schießen im Tiefflug über das Gelände, dann ziehen sie plötzlich hoch, farbige Kondensstreifen an den Himmel malend. Sie drehen sich auf den Rücken und verflechten ihre Bahnen. Das Kind auf Renés Schultern macht große Augen vor Staunen. Wie das Kind drehen Hunderte den Kopf nach oben, alle, außer den angetretenen Soldaten, die nach wie vor streng auf etwas schauen, das sich nur vor ihnen abzeichnet.
     
    Als die Zeremonie zu Ende ist, bahnt sich Egitto einen Weg durch die Menge. Die Familien bleiben auf dem Platz stehen, und er muss ihnen ausweichen. Wenn jemand ihn aufzuhalten sucht, gewährt er ihm einen flüchtigen Händedruck. Er lässt den Feldwebel nicht aus den
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