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Tief atmen, Frau Doktor!

Tief atmen, Frau Doktor!

Titel: Tief atmen, Frau Doktor!
Autoren: Richard Gordon
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1
     
    Die Stadt Mitrebury trug den Anstrich des zwanzigsten Jahrhunderts wie eine notwendige Verkleidung.
    Seit sechshundert Jahren wies ihr Kirchturm den Engländern hoffnungsvoll den Weg in den Himmel. Seit dem Tod von Königin Anna hatte man auf dem mit Gras bewachsenen Hof darunter in feierlicher Bedächtigkeit ein Konsortium von Eichen versammelt. Im mächtigen Schatten seiner Heiligkeit wanden sich kopfsteingepflasterte Gäßchen zwischen Häusern mit krummen Schornsteinen und Fenstern und Türen, die schief waren wie die Zähne eines Greises; das Mauerwerk war durchfurcht wie uralter Fels.
    Diese Häuser beherbergten friedlich dahinlebende Generationen, unerschütterlich in ihrem Dienst an Gott. Nur eines davon strebte eher nach Wohl und Heil auf Erden als im Jenseits.
    Ein Schild, so abgeschliffen, daß es der Unerforschlich-keit der mittelalterlichen Grabplatten der Kathedrale in nichts nachstand, verkündete dem Leser, der sich die Mühe gab, es zu entziffern:
     
    Alte Stiftspraxis
    Dr. Carmichael, Dr. Hill & Dr. Fellows-Smith
    8 bis 9 Uhr - 17 bis 18 Uhr
    oder nach privater Vereinbarung
    ausgenommen an Wochenenden.
     
    Niemand in Mitrebury wußte, warum sie »Alte Stiftspraxis« genannt wurde. Nicht einmal Erzdiakon Bellwether, dem die Aufsicht über die Pfarrhäuser und Pfarrkirchen von der Krypta bis zur Kirchturmspitze oblag. Es hatte tatsächlich ein Stift gegeben, aber das war von Cromwells Kanonenkugeln im Sommer des Jahres 1643 dem Erdboden gleichgemacht worden, was für Mitrebury soviel wie gestern nachmittag war. Die Wahrheit war einfach: Diejenigen, die die Praxis vor fast vierzig Jahren eingerichtet hatten, waren der Ansicht gewesen, daß der Name nicht schlecht klang. Gegen ein Uhr an einem sonnigen, windigen Tag, der die Wetterfahnen von Mitrebury wie die Schwänze aufgeregter Hunde zum Wedeln brachte, hielten zwei dieser Ärzte gerade eine klinische Besprechung ab.
    »Keine Hoffnung für sie«, sagte Dr. Freddie Fellows-Smith düster. Er war glatzköpfig, beleibt, trug einen rostbraunen Tweedanzug und eine kanariengelbe Weste mit Fuchsknöpfen. »Armes Ding.«
    »Sehr traurig.« Dr. »Biggin« Hills gestreifte Krawatte und sein Blazer mit dem Wappen Per Ardua ad Astra bezeugten seinen lebenslangen Stolz auf die Königliche Luftwaffe, in der er im Krieg als Stabsarzt des großen Luftwaf-fenhelferinnenlagers in Morecambe, Lancashire, gedient hatte. »Wann, glaubst du, wird sie Bruch machen?«
    »Jeden Augenblick. Sie siecht nur so dahin.«
    »Welche Diagnose stellst du?«
    »Der gefürchtete rote Schafspulwurm.«
    Mit einem Golfschläger schnippte Biggin eine Pillenschachtel aus Plastik der Krankenkasse quer durch den Aufenthaltsraum der Klinik in den geflochtenen Papierkorb.
    Der dritte Sonntag der Fastenzeit war vorüber, und Mitrebury begann an seinen Wangen die schüchternen Fühler des Frühlings zu spüren. Die Knospen der Kastanienbäume waren prall wie Sirupkaramellen, die Weidenkätzchen hingen herab wie gelbsüchtige Raupen, in den Wäldern blinzelten die ersten Primeln, und die Märzenbecher zeigten deutlich, warum Wordsworth so erregt war. Nun hüllte eine mildere Luft die kränklichen Überlebenden des Winters ein, wie Decken Schiffbrüchige umhüllen, und der allmorgendliche Chor der Hustenden im Wartezimmer verstummte. »Vielleicht psychosomatisch?« fragte Biggin hoffnungsvoll.
    Freddie schüttelte verdrossen den Kopf und zog an dem schmalen, goldgeprägten Rücken von William Harveys berühmten Buch aus dem sechzehnten Jahrhundert, De Motu Cordis. Das legte einen Teil der mit medizinischer Literatur angefüllten Regale, die eine Wand bedeckten, frei. Die übrige Dekoration bestand aus einer Glasvitrine mit Silberpokalen, die er bei der Landwirtschaftsausstellung von Mitrebury gewonnen hatte, und aus einer zweiten Vitrine, in der sich ein Fasan befand, den er vor langer Zeit geschossen und präparieren lassen hatte. Er langte zu den Flaschen im verborgenen Schrank und schenkte sich einen Pink Gin ein.
    »Wie viele Junge hat sie?« fragte Biggin voll Mitgefühl.
    »Neun. Nicht einmal eine Diät von Sirup und Futterkleie hat etwas genützt. Gin gefällig?«
    »O.K.«, willigte Biggin ein.
    »Ich habe beschlossen, sie zu töten. Möglichst schmerzlos natürlich.« Freddie spritzte seinen Gin mit Angosturabitter auf. »Wenn du also eine Speckschwarte willst, dann besuch mich nächste Woche auf meiner Farm und hol sie dir.«
    Die Tür des Aufenthaltsraumes öffnete sich, denn der
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