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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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I Eine klirrend kalte Februarnacht. London versinkt im Schnee. Die Flocken tanzen in den Neonlichtkegeln der Straßenlampen und legen sich als Schals um die geparkten Autos.
    Hinter einem Betongebäude im Westen der Stadt huscht ein dürrer Fuchs auf der Suche nach einem warmen Plätzchen über einen Parkplatz und hinterlässt eine kokette Fährte, deren schwache Reste in wenigen Stunden Frühaufsteher bestaunen werden. Fünf Stockwerke höher beobachtet Xavier Ireland durch das zunehmend weiße Fenster eines Radiostudios, wie sich der Fuchs in einen Winkel neben einem Recyclingcontainer verkriecht.
    »Also, ich an eurer Stelle würde es mir im Warmen gemütlich machen und weiter bei uns anrufen«, rät Xavier seinem unsichtbaren, über London verstreuten Publikum. »Gleich hören wir von einem Mann, der dreimal geheiratet hat … und dreimal geschieden ist.«
    »Autsch!«, wirft sein Co-Moderator und Producer Murray in seiner typisch banalen Art ein und drückt einen Knopf, um den nächsten Song zu starten.
    »Sehr beschaulich da draußen«, sagt Xavier.
    »Ich w-w-w-wette, das gibt ein Chaos morgen früh«, stottert Murray.
    2003, als Xavier bei diesem Radiosender als Runner arbeitete, Tee kochte und Kabel in die Wand steckte, sah er zum ersten Mal Schnee. Erst ein paar Wochen zuvor hatte er Australien verlassen, einen neuen Namen angenommen – der alte war Chris Cotswold gewesen – und sich in das Vorhaben gestürzt, ein neues Leben in diesem fernen Land zu beginnen, in dem er als Baby gelebt hatte, aber seitdem nicht mehr. Damals wie heute beeindruckte es ihn, wie zart jede einzelne Schneeflocke war und wie viele es davon brauchte, um eine Straße zu bedecken. Zugleich erinnerten ihn der ungewohnte Anblick und die bittere Kälte daran, dass der größte Teil der Welt zwischen ihm und seiner Heimat lag, zwischen ihm und seinen Freunden.
    Mit der Zeit war Xavier vom Mädchen für alles zu Murrays Assistent aufgestiegen, bis sich die Rollen schließlich umkehrten, sodass jetzt Xavier der Berater für die große, schlaflose Hörerschaft der Sendung ist.
    »Ich frage mich nur, was mit mir nicht stimmt«, sagt der aktuelle Anrufer, ein zweiundfünfzigjähriger Lehrer, der allein am Rand einer Wohnsiedlung in Hertfordshire lebt.
    Es ist zwanzig vor zwei Uhr morgens. Die schlechte Handyverbindung hackt einige seiner Sätze in der Mitte ab. Murray fährt sich mit dem Finger von links nach rechts über den Hals, er will den nächsten Anrufer hereinnehmen, denn dieser hier spricht schon gute drei Minuten, aber Xavier schüttelt den Kopf.
    »Ich meine, ich bin ein anständiger Mensch«, klagt der deprimierte Lehrer weiter, der Clive Donald heißt und nach diesem Anruf noch soviel unruhigen Schlaf aus der Nacht herausholen wird, wie er eben kann, bevor er aufstehen, einen grauen Anzug anziehen und sich in sein Auto setzen wird, auf der Rückbank dreißig Mathematikhefte in einer wettergegerbten Aktentasche. »Ich … ich spende zum Beispiel regelmäßig. Ich habe auch ein paar Interessen. Es ist nicht so, dass irgendwas – dass mit mir irgendwas nicht stimmen würde, könnte man sagen. Warum kann ich keine glückliche Ehe führen? Warum mache ich immer irgendwas falsch?«
    »Es ist zu einfach, immer zu glauben, es wäre alles Ihre Schuld«, sagt Xavier zu ihm und zu allen anderen Hörern überall in der Stadt. »Glauben Sie mir, ich habe Monate – ach was, Jahre – damit verschwendet, immer wieder über meine Fehler zu grübeln. Irgendwann habe ich mir gesagt: Schluss jetzt, du musst sie vergessen.«
    Clive, soweit getröstet, dass er sich zum Schlafengehen entschließen kann, bedankt sich bei Xavier und legt auf.
    Murray drückt einen Knopf.
    »Und jetzt freuen wir uns auf die Nachrichten und das Wetter«, sagt er. »Wir sind gleich wieder da.«
    Murray geht hinaus in den Flur und hält eine Brandschutztür auf, um an der frischen Luft eine Zigarette zu rauchen. Der Schnee fällt mit einer unbritischen Heftigkeit, eher wie Hagel oder Graupel, statt mit der fedrigen Leichtigkeit dessen, was normalerweise so als Schnee gilt. Xavier trinkt einen Schluck Kaffee aus einem gelben Becher mit der Aufschrift BIG CHEESE und dem Bild einer Scheibe Käse darauf. Er hat ihn vor ein paar Jahren von Murray zu Weihnachten bekommen, und in seiner eher plumpen Funktionalität und seiner unhandlichen Größe hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, der ihn geschenkt hat.
    Ein paar Meilen weiter schlägt ein schlotternder Big
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