Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
Augen. Einen Moment lang kam es ihm vor, als wolle er sich zum Gehen wenden, aber er ist geblieben. Egitto erreicht ihn, und als er vor ihm steht, nimmt er den Hut ab. «René», sagt er.
    «Hallo, Doc.»
    Der Feldwebel setzt das Kind auf dem Boden ab. Eine Frau kommt näher und nimmt es bei der Hand. Egitto begrüßt sie mit einem Kopfnicken, sie erwidert den Gruß aber nicht, kneift die Lippen zusammen und weicht zurück. René kramt nervös in seiner Jackentasche, zieht ein Päckchen Zigaretten heraus und zündet sich eine an. Das ist etwas, was sich nicht geändert hat: Er raucht immer noch die gleichen schlanken weißen Zigaretten, Damenzigaretten.
    «Wie geht es Ihnen, Herr Feldwebel?»
    «Gut», antwortet René eilig. Dann wiederholt er es, aber mit weniger Schwung: «Gut. Ich versuche mich zu behelfen.»
    «Recht so. Man muss sich behelfen.»
    «Und wie geht es Ihnen, Doc?»
    Egitto lächelt. «Auch ich schlage mich so durch.»
    «Dann hat man Ihnen also nicht zu viel Ärger gemacht wegen dieser Geschichte.» Es ist, als würde der Satz ihn eine gewisse Überwindung kosten. Als ob ihm nach allem nicht viel daran läge.
    «Ein Disziplinarverfahren. Vier Monate Suspendierung vom Dienst und ein paar sinnlose Vernehmungen. Die waren die eigentliche Strafe. Sie wissen ja, wie das ist.»
    «Gut für Sie.»
    «Gut für mich, ja. Sie dagegen haben beschlossen aufzugeben.»
    Er hätte sich anders ausdrücken können, anstelle von
aufgeben
ein anderes Verb wählen können: sich verändern, den Dienst quittieren. Aufgeben heißt kapitulieren, René scheint es jedoch nicht zu bemerken.
    «Ich arbeite in einem Restaurant, unten in Oderzo. Ich bin Saalchef.»
    «Also immer noch in einer Position mit Befehlsgewalt.»
    René seufzt. «Mit Befehlsgewalt, richtig.»
    «Und die andern Jungs?»
    René streift mit dem Fuß über ein Grasbüschel, das zwischen den Pflastersteinen herauswächst. «Ich sehe sie schon eine Weile nicht mehr.»
    Die Frau hat sich jetzt bei ihm eingehängt, als wolle sie ihn wegziehen, in Sicherheit bringen vor Egittos Uniform und ihren gemeinsamen Erinnerungen. Sie wirft dem Oberleutnant rasche, böse Blicke zu. René hingegen vermeidet es, ihn anzusehen, aber einen Augenblick lang konzentriert er sich auf das Zittern der schwarzen Feder an Egittos Hut, und der meint, einen Anflug von Nostalgie bei ihm zu bemerken.
    Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, und sogleich wird das Licht schwächer. Der Oberleutnant und der Feldwebel schweigen. Sie haben den wichtigsten Augenblick ihres Lebens miteinander geteilt, sie beide haben genau so dagestanden wie jetzt, aber mitten in der Wüste und mitten in einem Kreis von Panzerfahrzeugen. Ist es möglich, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben?
    «Gehen wir nach Hause», flüstert die Frau René ins Ohr.
    «Sicher. Ich will Sie nicht aufhalten. Viel Glück, Feldwebel.»
    Das Kind streckt René die Arme entgegen, um wieder auf die Schultern gehoben zu werden, es quengelt, aber es ist, als sähe er es nicht. «Sie können mich im Restaurant besuchen kommen», sagt er. «Es ist ein gutes Lokal. Ziemlich gut.»
    «Aber nur, wenn Sie mir eine bevorzugte Bedienung versprechen.»
    «Es ist ein gutes Lokal», wiederholt René abwesend.
    «Ich komme bestimmt», versichert Egitto. Aber beiden ist klar, dass das eines der zahllosen Versprechen ist, die nie eingelöst werden.

[zur Inhaltsübersicht]
    Erster Teil
Erfahrungen in der Wüste
    Drei Versprechen
    Zuerst kamen die Reden. Die Einsatzausbildung bei Hauptmann Masiero – sechsunddreißig Stunden Frontalunterricht, in denen den Soldaten Grundkenntnisse in Geschichte des Mittleren Ostens vermittelt wurden, Informationen über die strategischen Implikationen des Konflikts, und wo auch unter unvermeidlichem Gewitzel von den grenzenlosen Marihuanafeldern im Westen Afghanistans die Rede war –, vor allem aber zogen die Erzählungen von Kameraden die Aufmerksamkeit auf sich, die schon vor Ort im Einsatz gewesen waren und die jetzt denen, die aufbrechen sollten, mit einer gewissen Herablassung Ratschläge erteilten.
    Mit dem Kopf nach unten auf der Schrägbank, wo er eben die vierte Serie von Sit-ups beendet hat, lauscht der Obergefreite Ietri mit wachsendem Interesse der Unterhaltung zwischen zwei Veteranen. Sie sprechen von einer gewissen Marica, die im Stützpunkt von Herat stationiert ist. Schließlich überwältigt ihn die Neugier, und er mischt sich ein: «Gibt es da wirklich diese ganzen Weiber?»
    Die Kameraden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher