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Berichte aus dem Christstollen

Berichte aus dem Christstollen

Titel: Berichte aus dem Christstollen
Autoren: Jan Weiler
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Shock and Awe
    Auf Sankt Martin habe ich mich als Junge immer sehr gefreut. Der Sankt Martin war ein römischer Soldat zu Pferde. Er kam zum Parkplatz vor der Grundschule geritten und traf dort auf einen am Boden sitzenden Bettler, welcher einen höchst authentischen Eindruck auf mich machte. Ich war jedenfalls froh, dass der Bettler danach einen Job als Hausmeister der Grundschule bekam. Viel später begriff ich, dass er tatsächlich erst Hausmeister war und dann zusätzlich noch Bettler am Martinstag wurde und eben nicht umgekehrt. Ist ja auch egal.
    Sankt Martin zog ein eindrucksvolles Schwert und tat so, als bestünde sein Umhang nicht aus zwei gleich großen Teilen, die er bloß auseinanderziehen musste. Dann hieb er mit dem Schwert durch den Stoff und übergab eine Hälfte dem Bettler. Dieser erhob sich, um dem Martin zu danken, aber da hatte sich dessen Pferd bereits umgedreht und trug den Heiligen äpfelnd vom Parkplatz, worauf alle Kinder das Lied vom Sankt Martin sangen.
    Der Bettler lief in die Schule und gab – nun als Hausmeister verkleidet – jedem Kind mit Bezugsschein eine Papiertüte. Darin befanden sich in meiner niederrheinischen Heimat eine Mandarine, etwas Spekulatius, Bonbons, Nüsse sowie ein Weckmann. In dieses Männlein aus hellem Hefeteig war eine Gipspfeife eingebacken. Die zog sogar. Wir stahlen meiner Mutter eine Lord Extra, stopften den Tabak in die Weckmannpfeife und rauchten hinter den Brombeeren am Friedhof. Schmeckte erstklassig, fanden wir. Trotz dieser warmen Erinnerungen an den Hausmeister und die Gipspfeife ist mir Sankt Martin inzwischen nicht mehr besonders wichtig. Meinem Sohn Nick umso mehr.
    Dies begriff ich, als er heulend aus der Schule kam. Seinem von Weinstottern unterbrochenen Vortrag entnahm ich, dass seine La-La-La-Laterne ka-ka-ka-ka-pu-hu-hu-hutgegangen sei, als er sie seinem Kumpel Finn über die Birne habe ziehen müssen, weil dieser so do-ho-ho-ho-of gewesen sei. Um 17  Uhr seien Martinssingen und Martinsfeuer, und wenn er keine La-La-La-Laterne habe, könne er sich auch gleich umbringen.
    Ich tröstete ihn, wie man einen kleinen Jungen tröstet, nämlich mit den Worten: «Dafür hast du’s dem Finn aber ordentlich gezeigt», doch mein Sohn weinte und weinte, und das kann ich gar nicht ertragen. Also schlug ich ihm vor, eine neue Laterne zu basteln.
    Nun ist aber Basteln so gar nicht mein Ding. Etwa zu der Zeit meines ersten Martinsfeuers habe ich meiner Mutter einmal einen Topflappen gehäkelt, welchen sie sofort kommentarlos und vor meinen Augen in den Müll geworfen hat. Und sie war wirklich eine gute Mutter, an ihr lag es nicht. Doch jetzt hatte ich keine Zeit, meine handwerklichen Unzulänglichkeiten zu beweinen. Eine Laterne musste her. Wie ging das noch mal?
    Aus Pappe vier Rahmen bauen. Die Rahmen quaderartig verkleben. Mit Butterbrotpapier als Fenster ausstatten. Aber das Butterbrotpapier muss man natürlich VORHER bemalen, nicht hinterher, sonst reißt alles, und man kann von vorne anfangen. Mist. Noch mal. Aus Pappe die Rahmen bauen. Butterbrotpapier bemalen. Von innen an die Rahmen kleben. Dies aber BEVOR man die Rahmen miteinander verklebt. Mist. Noch mal. Und den Boden nicht vergessen. Da muss ein Teelicht drauf. Dafür muss man aber auch oben ein Loch in der Laterne lassen, sonst kann man das Licht weder reinstellen noch auspusten, geschweige denn anzünden. Mist. Noch mal. Nach dem vierten Versuch hyperventilierte Nick und schalt mich Bastelnull und ganz miserablen Papa.
    Da fielen mir die Gartenfackeln ein. Stinkende Dinger, wie sie bei Sommerfesten und beim Ku-Klux-Klan Verwendung finden. Ich suchte im Schuppen nach den Dingern, fand sie nicht, dafür aber etwas viel Besseres: den Gasbrenner. Ich zünde damit Grillkohle an und verkokele Unkraut. Das Gerät besteht aus einer Gasflasche, an der ein langer oranger Schlauch angebracht ist. Dieser mündet in einem Metallstab, an dessen Ende sich ein Brenner und ein Abzug befinden. Man zündet eine kleine Flamme an, und immer wenn man den Abzug betätigt, schießt fauchend eine Stichflamme von einem halben Meter Länge hervor.
    Ich stellte das Ding auf eine Sackkarre, und wir gingen zum Martinszug. Zwischendurch zog Nick am Gasbrenner. Worte können das selige Lächeln des Kindes nicht beschreiben. Und die Gesichter der anderen Kinder und ihrer Eltern auch nicht. Ich sage nur: Shock and Awe. Schock und Ehrfurcht. Selbst Sankt Martin war schwer beeindruckt.

Niebel alaaf!
    Erstaunlicherweise ehren
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