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Der Königsschlüssel - Roman

Der Königsschlüssel - Roman

Titel: Der Königsschlüssel - Roman
Autoren: Boris Koch
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MARINTH
    Die frisch gewaschenen Banner des Mechanischen Königs flatterten im Frühlingswind über den beiden Türmen des Stadttors. Die Doppeldeckerkutsche der Nordlinie hielt an der Überlandstation direkt davor. Verschwitzte und mit Staub bedeckte Fahrgäste kletterten heraus, streckten sich und blinzelten in die Sonne. Sie alle waren nach Marinth gekommen, um der Schlüsselzeremonie und dem Turnier beizuwohnen.
    Vela, die oben am Fenster gesessen hatte, verließ die Kutsche als Letzte. Sie warf sich den verschlissenen Rucksack ihres Großvaters über die Schulter und kickte die Kutschentür schwungvoll zu.
    »Hey! Pass doch auf, du Rotzgöre!«, motzte der Kutscher, aber Vela achtete nicht auf ihn. Tief sog sie die frische Luft ein und atmete erleichtert durch. Weshalb in Linienkutschen so oft ein scharfer Zwiebel-Bohnen-Eintopf an die Reisenden verteilt wurde, würde sie nie verstehen.
    Gemächlich folgte sie den anderen Leuten in die Stadt. Gleich hinter dem Tor begann der jährliche Schlüsselmarkt; bunte Stände säumten die breite Hauptstraße, überall drängten sich Bürger und Gäste aus dem ganzen Land. Lachende Händler boten lauthals kandierte Früchte an. Es gab glasierte Nüsse, die wie fliegende Käfer geformt waren, und daneben die bittersüßen Sonnenschoten, deren grell gelbe Farbe weithin leuchtete, weil die Händler sie mit Öl einrieben.
    Bei einem alten Mann mit meerblauer Schürze erstand Vela eine Tüte mit gesalzenen Fingerfischen, die tatsächlich nur so
groß waren wie ihr kleiner Finger. Darauf hatte sie sich schon die ganze Reise über gefreut, bei jeder Schale Eintopf hatte sie an die Leckereien der Stadt gedacht. Hastig stopfte sie sich im Weitergehen die getrockneten Fische in den Mund.
    Ein Jahr war vergangen, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, aber es kam ihr vor, als verändere sich in Marinth nie etwas. Neugierig ließ sie den Blick über die überfüllten Buden und die Häuser in deren Rücken schweifen. Die Häuser bestanden allesamt aus dem gleichen roten Stein, der an Rost erinnerte und zu großen Quadern gehauen war. Die Mauern waren dick und die Fenster klein, damit im Sommer die große Hitze nicht ungehindert in die Räume eindringen konnte.
    Marinth hatte ihr gefehlt. Vela konnte nicht aufhören zu lächeln, selbst dann nicht, als ihr ein großer dünner Mann mit einem blau-weißen Wappen auf der Brust vor die Füße fiel, weil ihn ein Wirt aus dem Lokal geworfen hatte. Zu viel Wein am frühen Morgen. Hätte man den dünnen Mann gefragt, wahrscheinlich nur zu Ehren des Königs!
    Er erhob sich mühsam und schielte Vela über seine gewaltige Nase hinweg an. »Verzeihung, junge Dame«, lallte er und verbeugte sich schwankend. Dann wandte er sich ab und stolperte in das Lokal zurück. »Und ob ich diesen vermaledeiten Bären unter den Tisch trinken kann!«, rief er.
    Vela schüttelte lachend den Kopf und stopfte sich den letzten Fisch in den Mund. Hätte ihre Mutter das gesehen, hätte sie wieder gejammert: »Die Stadt ist groß und gefährlich und voller … voller … Fremder.«
    Dabei lebte Velas Vater hier. Außerdem konnte sie langsam wirklich auf sich selbst aufpassen. Sie hatte schon dreizehn Geburtstage hinter sich, und wenn es hart auf hart käme, konnte
sie einem Angreifer immer noch den schweren Hammer gegen das Knie schmettern. Wozu schleppte sie das Ding denn sonst überall mit hin?
    Ihre Hand suchte nach dem glatten Griff des Werkzeugs, das an ihrem Gürtel hing, gut versteckt unter dem weiten Hemd. Auch der Hammer war ein Geschenk ihres Großvaters Rendo. Er hatte ihn in derselben Schmiede für sie angefertigt, in der auch ihr Vater gelernt hatte - bevor er nach Marinth gegangen war, um Königsmechaniker zu werden. Wenn sie den Hammer berührte oder ansah, erinnerte sie sich an den Geruch der Schmiede, und es war fast so, als höre sie Großvater Rendos hohe, kratzende Stimme. Sie fühlte sich sicher. Und die zwei Wochen bei ihrem Vater würden wie jedes Jahr viel zu schnell vergehen.
    Im Vorübergehen ließ sie die Hände über die ausgehängten weichen Tücher gleiten. Johlende Kinder stießen gegen ihre Beine und Hüfte und rannten weiter, eine verzweifelte Mutter eilte ihnen hinterher. Schließlich blieb Vela an einem weiteren Essensstand stehen und beobachtete, wie der dicke Verkäufer mit gewaltigem Schnauzbart dünnen Teig auf eine heiße Platte goss. Mit leisem Zischen färbte sich der Teig goldbraun. Der Mann gab eine Masse aus Feueräpfeln
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