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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper
Autoren: Paolo Giordano
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lässt, in wenigen Augenblicken alles durcheinanderzubringen. Noch bevor sie in die eigentliche Verhandlung eintreten, ist er sicher, dass er einen Weg finden wird, alles über den Haufen zu werfen.
    Die Akte, die über ihn angelegt wurde, betrifft den Einsatz in der FOB während des zweiten Halbjahrs ihres Aufenthalts und die Art, wie sein Verhalten zum Teil – Caracciolo unterstreicht
zum Teil
 – die Ereignisse vom Oktober beeinflusst haben könnte. Egitto verweilt einen Moment lang bei diesem Ausdruck, was ihn von allem Übrigen ablenkt. Mit dieser Formulierung hat man also beschlossen, die Toten im Tal von sich fernzuhalten:
die Ereignisse vom Oktober
, als ob es ähnlich bedeutsame Ereignisse für Dezember, April, Juni, August geben würde … Er fragt sich, welches die Ereignisse des aktuellen Monats wären. Sicher werden sie mit der laufenden Untersuchung nichts zu tun haben.
    Caracciolo bemüht sich, all seine verdienstvollen Handlungen aufzuzählen, bevor er zu den – hier macht er eine lange Pause, sucht nach dem passenden Adjektiv, und nachdem er es gefunden hat,
diskutabel
, heischt er mit Blicken um die Zustimmung der anderen Kommissionsmitglieder –, bevor er, wie gesagt, zu den diskutablen Aspekten kommt. Er führt die Episode mit dem mit Opium vollgestopften Kind an, das Egitto wie durch ein Wunder gerettet hat, zusammen mit weniger symbolisch aufgeladenen Aktionen, die er etwas ausschmücken muss. Egitto ist ihm nicht besonders dankbar für den Gefallen. Er hört zu und hört nicht zu.
    Der Major, damit beauftragt, das Protokoll zu führen, bewegt die Hand nur sparsam. Diese Art von Apologetik interessiert ihn nicht; nicht, um ihn zu belobigen, haben sie sich um zehn Uhr morgens an diesem diesigen Tag versammelt. Er wirkt aber plötzlich belebter, als Caracciolo die Verwundung des Obergefreiten Angelo Torsu in der Schlacht erwähnt. Egitto ist klar, dass damit der zentrale Punkt der Verhandlung erreicht ist.
    Die Familie des Soldaten – die, da Signora Torsu vor kurzem verstorben ist, nur aus dem Vater besteht sowie einer Schar weniger naher Verwandter, Onkel und Vettern ersten bis dritten Grades – hat gegen den Oberleutnant Anzeige erstattet. Aus den gesammelten Zeugenaussagen von Torsus Kameraden geht hervor, dass der Obergefreite zum Zeitpunkt des Aufbruchs des Konvois noch kaum genesen war von einer schweren Lebensmittelvergiftung, verursacht durch den Genuss von vor Ort gekauftem Fleisch, was im Übrigen eine klare Verletzung der Hygienevorschriften war (eine Fahrlässigkeit, für die der Arzt vom Dienst verantwortlich zu machen wäre, obwohl, beeilt Caracciolo sich zu präzisieren, diese Anklage nicht Gegenstand der Verhandlung ist – alle Anwesenden werden verstehen, dass sich die Anforderungen auf dem Kriegsschauplatz nicht im Nachhinein bewerten lassen, denn schließlich hätten sie das ja alle selbst schon erlebt, ist es nicht so?).
    Aber der Obergefreite Torsu … der stellt ein schönes Problem dar. Vor allem wegen des Zustands, in dem er sich befindet. Und es ist verständlich, dass die Familie jetzt nach einem Schuldigen sucht, oder sagen wir ruhig, nach einem Sündenbock (den letzten Satz nimmt der Major nicht ins Protokoll auf, aller Wahrscheinlichkeit nach hält er ihn für zu tendenziös).
    «Das Bild kompliziert sich durch den Bericht, abgefasst von einem neutralen Beobachter, der im fraglichen Zeitraum in der FOB zu Besuch war.»
    Unwillkürlich reißt Egitto die Arme nach oben, eine derjenigen körperlichen Reaktionen, die man in einem solchen Kontext besser vermeiden sollte. Er umfasst die Knie, um sich in den Griff zu bekommen. Der Beobachter, von dem Caracciolo in so geheimnisvollen Andeutungen spricht, ist in Wirklichkeit eine Beobachterin, aber er hat das deutliche Gefühl, der Einzige im Raum zu sein, der das weiß. Er beschließt, das Detail für sich zu behalten.
    Im Bericht von Irene Sammartino wird der Oberleutnant beschrieben als – und hier zitiert der Oberst wörtlich –
sichtlich in einem Zustand der Stumpfheit, müde, nicht sehr klar
, was seine
unvorsichtige Bewertung
des körperlichen Zustands des Obergefreiten Torsu erklären könnte. Als persönlichen Kommentar setzt Caracciolo hinzu, ein gewisser Grad an Erschöpfung erscheine ihm nach so vielen Monaten in der Hölle das Minimum, und wieder unterbricht der protokollführende Major, nimmt die Bemerkung nicht auf.
    Schließlich erinnert der Oberst Egitto daran, dass dies eine
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