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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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Objekt für Menschen mit handwerklichem Geschick.
     
    Er überlegte, ob er seinen Geburtsschrank versinken lassen oder mit nach Berlin nehmen sollte, aber was würde er dann mit diesem Riesending machen? Am Ende müsste der Schrank doch zu Kovac, weil er in Pauls Welt gar nicht hineinpasste.
    Der Mann, der ihn vor einiger Zeit mit der »Schule der Würde« überfallen hatte, betrat das Central. Er setzte sich an den Tresen, ohne zu grüßen oder das Gespräch wieder aufzunehmen. Er bestellte, trank und drehte sich auch nicht mehr um. Seine Schultern waren eingezogen, der Rücken gekrümmt. Als er noch etwas trinken wollte, sagte man ihm, er habe schon genug.
    Paul stand auf und ging an den Tresen. Er nahm die Flasche aus seiner Jacke und goss ihm den Schnaps von Johan und Hinrich aus dem Jahr 1943 ins leere Glas.
     
    Paul saß in der Marcusheide auf einem Ast und trank. Er lief weiter am Barkenhoff vorbei. Über die alte Fußballwiese. Er sah das Fenster. Es leuchtete so, wie es in seiner Kindheit rot und geheimnisvoll geleuchtet hatte, wenn die Dämmerung über seinem Tor hereingebrochen war. Er stellte die Flasche neben den Zuweg vom Don-Camillo-Club und klingelte ...
    »Bist du zum ersten Mal hier?«, fragte die Frau an der Tür. Sie trug ein glitzerndes Kostüm und ihr dünnes Haar in blonden, hochgewellten Formen.
    Paul hätte schwören können, dass es diese Frau gewesen war, die ihm vor all den Jahren die Tür geöffnet hatte, als er den Ball holen wollte, den er zuvor ins offen stehende Bordellfenster geschossen hatte. Wie hätte er das je vergessen sollen, dachte er, die erste Frau aus der Welt hinter dem geheimnisvollen Fenster? Bis dahin hatte er nur die »Brüste der Wahrheit« von seiner Mutter im Badezimmer gekannt. Die Baumwollrippen von Müttern, die sich am Fluss auszogen, um sich in das dickflüssige Moorwasser zu stürzen zu ihren Bleichmoosen und jahrtausendealten Sumpfgräsern, Käfern und Fischgräten. Oder splitternackte, brennende Frauen als Weihnachtsbaum, wie im Wohnwagen von Bernhard Haller. Aber diese Frau, die ihm damals in der Tür erschienen war, sie hatte dagestanden wie ein weißer Engel mit unvorstellbarer Unterwäsche und Adidas-Tangoball.
    »Ich war mal hier, als ich zehn war oder elf«, antwortete Paul.
    Die Frau lächelte. »Ich heiße Martha. Und du?« Sie sah ihn aus tiefen Augenringen an.
    Mein Gott, wie die Zeit zwischen dem einen und dem anderen Türöffnen verging. Und war es nicht unmöglich, in seinem Heimatdorf das Bordell zu besuchen?, dachte Paul. Es könnte einem die ganze Kindheit nehmen.
    »Peter«, sagte er, es war der erste Name, der ihm einfiel.
    »Was trinkst du, Peter? Oder willst du eine abholen? Vorhin war hier jemand, der hat eine abgeholt.«
    »Haben Sie Dark & Stormy?«
    »Kenn ich nicht, so was.«
    »Whiskey?«
    »On the rocks?«
    »Bitte.«
    Paul setzte sich etwas abseits in eine Sitzecke mit einer Schale Salznüsschen. Neben ihm erschien eine riesige bewegte Vagina an der Wand. So eine große hatte er noch nie gesehen, sie öffnete sich genau vor der kleinen Sitzecke. Paul stand leicht erschrocken wieder auf.
    »Videobeamer, wie Heimkino«, erklärte Martha und stellte ihm den Whiskey hin.
    »Vielen Dank«, sagte Paul.
    »Die Mädels sind gerade belegt. Heute haben wir hier eine Gruppe.« »Kein Problem.«
    »Aus dem Zimmer hat der die rausgeholt. So was hab ich noch nicht erlebt. Die war erst seit zwei Tagen hier.« »Hm«, erwiderte Paul.
    Die Vagina war wirklich übermächtig und die Hände, die an ihr spielten, halb so groß wie Paul. Das waren ja wirklich Dimensionen, da könnte er ja theoretisch seinen Kopf reinstecken, schätzte er.
    Seine Mutter hatte er immer noch nicht angerufen. Er war nicht weiter gekommen als bis zur Vorwahl ihrer Insel. Warum anrufen, um von einem »Grundbruch« des Hauses zu berichten, fragte er sich, wenn ihm schon die Sätze aus dem letzten Telefonat jeden Boden nahmen.
    Da stand auch mein Hustensaft von früher, ja, und? Schon gut.
    Er trank Whiskey, griff in die Schale mit den Nüsschen. Dann suchte er die Toilette.
    Als er am Pissoir wartete, konnte er auf die alte Fußballwiese sehen. Sie lag im roten Schein, der aus den Zimmern fiel. Er schob den Vorhang beiseite und sah die Stelle, wo früher aus zwei Gummistiefeln sein Tor gestanden haben musste. Wie leicht er gewesen war in diesem Tor, das er hütete. Wie unbeschwert er flog. Wie rein er durch den Dreck einer kleinen Welt hechtete. Und nun stand er drinnen, 25
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