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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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zurückdrehte. Er wählte die Nummer der Insel Lanzarote, zögerte einen Moment und drückte den Hörer zurück in die Gabel.
    Er stand auf und lief in die Trümmer der alten Scheune. Die Weberknechte irrten, aus allen Zusammenhängen gerissen, umher zwischen den Brettern, Obstkörben und den umgestürzten Willy-Brandt-Modellen, die an den Metallgerüsten hingen. Ein paar Tonmodelle befanden sich hinten vor der Scheunenrückwand, von der ein Stück stehen geblieben war.
    Sollte der eine Kopf mit Rumpf sein Großvater sein? Es gab doch keine Skulptur von ihm, Paul konnte sich nicht erinnern, jemals seinen Großvater selbst in Bronze gesehen zu haben. Alle hatte er sie vollendet, die großen Männer der Jahrhunderte und seine zwei Frauen: sie skizziert und entworfen, modelliert und gegossen, in den Garten gestellt oder verkauft. Nur von sich selbst hatte er nie etwas heraus gegeben.
    Paul stieg wieder dieser Geruch von Leichenhaus in die Nase. Er trat zu einem der Kanister, der zwischen den Trümmern lag, schob eine Eisensäge beiseite und hob den zerplatzten Kanister auf: »Formaldehyd«.
    Der Großvaterkopf war kein gutes Selbstporträt. Die Haare stimmten, das bis zuletzt noch kräftige Haar, das er sich stets kurz schneiden und vorne in die Stirnfallen ließ. Auch die leichte Neigung des Kopfes, mit der er sein Gegenüber aus den verschiedensten Blickwinkeln untersuchte, war richtig. Ebenso der Ansatz der Arme mit den angedeuteten Händen erinnerte an den Großvater: diese vorgestreckten Hände, mit denen er die Menschen erschuf in seinen Seelenmärchen aus Revers-Ecken und Geheimnissen, die sich im Innenraum der Skulpturen befanden. Aber die Augen, die Nase, das Gesicht, das alles war nicht sein Großvater.
    Paul sah sie erst jetzt. Daneben standen noch zwei weitere vormodellierte Großvater- Versuche, auch sie stimmten nicht. Bei dem einen hatte er sich die klar gezogenen Falten von Willy Brandt gegeben; bei dem anderen völlig übertriebene Augenbrauen, fast wie diese Büsche bei Nietzsche oder Max Schmeling. Auch der Mund war viel zu breit, sein Großvater hatte eher einen Rilke- oder Napoleonmund gehabt, spitzer, schmallippiger.
    Am Rand befand sich eine kleine Figur, fast verdeckt durch die Großvater-Versuche, Paul erkannte den zarten Kopf sofort. Es war das Modell vom Jungen, der mit dem Fahrrad durch den Krieg nach Hause fahren wollte und vom Hauptmann auf dem Moorweg angehalten wurde. Früher war Paul vor der fertigen Bronzefigur von Kurt Albrecht immer lange stehen geblieben, als sie noch im Garten zwischen all den anderen und nicht wie später allein in einer Schule gestanden hatte.
    Paul sah es auch jetzt in dem Tonentwurf: wie die Arme des Jungen hinter dem Rücken geformt sind, wie er die Marinemütze versteckt, die er dann dem Hauptmann vorzeigen muss, was ihm den Tod bringen wird. Wie konnte man einen Jungen, der nur nach Hause wollte, an einen Richtpfahl fesseln und erschießen, wo doch alles schon verloren war? Er hatte es nie begriffen. Ich wünsche mir, dass ich diese Zeit überstehe und der liebe Gott es gut mit mir meint - fand man auf einem Zettel in seiner Hosentasche, der Großvater ließ es in den Sockel eingravieren.
    Paul stand vor der Tonfigur des Jungen und den Selbstversuchen seines Großvaters, der mit seinen kräftigen Händen und den zarten Modellierhölzern immer alles darauf verwendet hatte, den genauen Ausdruck zu erfassen: die Spannung des Körpers, die Augen, sogar die Blicke, die bei dem Jungen wie nach innen gerichtet schienen. Nur für sein eigenes Leben hatte er nicht die richtige Form gefunden.
    Paul steckte sich eine der alten Buddeln Schnaps in die Jackentasche und stieg aus den Trümmern.
     
    Am Abend saß er im Cafe Central. An der Bar stand ein Mann im schwarzen Anzug, darüber trug er eine Lederjacke.
    »Barkenhoff?«, fragte er. »Georgij Aleksej Petrov?« »Maler?«, er klang wie ein Russe.
    Während ihm die Kellnerin den Weg auf einen Zettel zeichnete, tippte er mit dem Autoschlüssel auf den Tresen, so als ginge es ihm nicht schnell genug. Dann verließ er ohne ein Wort das Cafe.
    Paul bestellte ein Bier und nahm sein Notizbuch:
    Großer, üppiger Garten zu verkaufen mit Abrissruine.
     
    »Abrissruine« klang abschreckend. Er schrieb stattdessen:
     
    Großer, üppiger Garten zu verkaufen mit defekter Villa.
     
    So eine Formulierung ging eigentlich nicht. »Sanierungsobjekt?« Er änderte es noch einmal um:
     
    Großer, üppiger Garten zu verkaufen mit
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