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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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es war 8 Uhr 30 am Morgen und Paul war der Einzige, der an einem Tisch saß, neben ihm der Latte Macchiato und das schwarze Notizbuch. Andere warteten auf ihren Latte Macchiato zum Mitnehmen, blätterten dabei flüchtig in Magazinen herum und warfen Blicke nach draußen zu ihren Autos mit Warnblinkzeichen auf dem Seitenstreifen. Sie nahmen den Pappbecher, rührten weißen oder braunen Zucker hinein, wobei sie sich meist gegenseitig im Weg standen, sodass manche ohne Zucker auf die Straße eilten und erst die Zeit für ihren Kaffee nutzten, wenn sie schon im Auto oder zu Fuß vor der Ampel warteten.
    Vielleicht war es übertrieben, vielleicht vergrößerte er solche Dinge, aber wann gab es so etwas bei ihm, dass er einen kleinen Moment nutzte, weil er eingerahmt, umschlossen war von Berufswegen und Notwendigkeiten, von verplanter Zeit? Es machte ihn traurig, dass er den ganzen Tag an einer Ampel stehen könnte mit einem Pappbecher in der Hand - aber er würde nie die Zeit nutzen wie die anderen, bei denen sie aus dem Rahmen, der Umschlossenheit hervorleuchtete wie Freiheit, ja, wie Glück. Paul glaubte, er müsste in einem Urlaub sterben, denn wie sollte man diese Zeit ertragen, wenn sie nicht umschlossen war vom verplanten Leben?
    Er hielt immer noch den Löffel in der Hand und strich mit einer energischen Bewegung den verschütteten Zucker aus seinem Notizbuch:
     
    Pläne:
    1. Galerie / Beruf: Händler u. Sammler kennenlernen. Chinesen. Russen. Dubaianer. (Dubaier? Welche aus Dubai!)
    Liebe / Leben: Barcelona-Reise (Easy jet)
     
    Er googelte nach dem besten Restaurant in Barcelona und notierte:
    3. Mit Christina Essen gehen ins Set Portes (7 Türen)! (Adresse: Passeig d'Isabel)
    4. RiojaVallformosa bestellen! (Una ampolla!)
    Heiratsantrag machen! (Entweder am Anfang oder nie!)
     
    Er wollte gerade »6. Kinder!« schreiben, dann ließ er es weg. Er schrieb stattdessen:
    1.      a) Galerie / Beruf: Halmer-Projekt
     

Pläne und die Salatköpfe der Mutter
    Paul führte eine kleine Galerie in der Brunnenstraße. Sie bestand aus einem etwas dunkleren Raum, in dem vor Kurzem noch ein Waschsalon gewesen war. Der Boden hatte durch die jahrelangen Schleuderprogramme an manchen Stellen Vertiefungen bekommen und es roch noch leicht nach alter, muffiger Wäsche, obwohl Paul immer neue Sorten von Räucherstäbchen einsetzte: Harze, Balsame, Hölzer, Wurzeln, Blüten, zuletzt brannten in seiner Galerie ganze Kräuterbündel aus dem Urwald. Links von der Galerie war Brillen-Meyer, rechts Ginas Hundestudio und gegenüber der kroatische Schrotthändler Kovac. Brillen, Hunde und Schrottautos wirkten auf den ersten Blick nicht wie das ideale Umfeld, dennoch glaubte Paul an seine Galerie. Er war überzeugt, dass der Standort mit der Zeit immer zentraler werden und sich das Zentrum vom Osten her auf ihn zubewegen würde.
    In dem Showroom konnte er ungefähr fünf Bilder großzügig hängen, ein sechstes, wenn er noch die Fläche hinter seinem Worpsweder Heinrich-Vogeler-Tisch nutzte, der sicherlich wertvoller als alle Bilder zusammen war. Manchmal legte er seine Yogamatte in den Raum, machte ein paar Übungen (Schulterstand, die Krähe sowie den fliegenden Hund). Er schlief auch dort, wenn Christina ewig lange in ihrem Biologie-Institut forschte. Er wachte dann morgens in der Galerie auf, räumte die Yogamatte beiseite, holte sich bei der Bäckerei ein Brötchen und machte Kaffee mit der Maschine »Primera Macchiato Touch Next Generation«, ein Geschenk seiner Mutter für den Neustart. Pünktlich um zehn Uhr öffnete Paul, er hätte auch um halb elf öffnen können, um zwanzig vor oder gar nicht, es machte keinen Unterschied, weil sowieso niemand kam. Oft dachte er schon beim Brötchen, dass er Punkt zehn öffnen und sich mit dem Essen beeilen müsste. Wenn die Disziplin stimmte, kam auch irgendwann der Erfolg, davon war er überzeugt.
    Die Brunnenstraße war wirklich eine gute Straße, nur wurde sie durch die Bernauer Straße in zwei verschiedene Welten geteilt, in den besseren Osten und in den schlechteren Westen. Im Prinzip vertauschte hier die Welt, wie sie einmal war, komplett die Rollen. In der unteren, der »östlichen« Brunnenstraße gab es Hot-Spot-Cafes, Feinkostläden, Galerien, bei denen angeblich Limousinen mit russischen und chinesischen Händlern und Sammlern vorfuhren. Paul überlegte: Die Entfernung von der östlichen Brunnenstraße bis zu seiner Galerie in der westlichen Brunnenstraße betrug nur 250 Meter,
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