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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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ist. Besuch mich doch! LG
     
    Paul sah auf sein Display. Er überlegte, was er antworten sollte. Oder überhaupt erst später antworten? Als er sein Galerie-Projekt startete, da war Christina ihm nah, aber jetzt hatte sie sich innerhalb von vier Tagen ein neues Leben eingerichtet: »Besuch mich doch! LG.« Er konnte sie nicht einfach so besuchen, das war ihr Weg, nicht seiner, er würde sich nur dranhängen in Barcelona und herumsitzen, während sie im Labor forschte und Karriere machte, außerdem hatte sie seinen Geburtstag vergessen. Und überhaupt: »LG«?!
     
     

Christina, das Pornoprojekt und der Butterkuchen
    Silvester war er mit ihr durch den Botanischen Garten gelaufen. Er in seiner alten roten Schneejacke, sie mit einem Küchenmesser, mit dem sie an Fruchtknotenfächern von Rosskastanien herumschnitt, um Samenanlagen für das Labor zu entnehmen, die sie in einem Tuch in ihre Tasche steckte, Paul dachte noch, dass dies wenigstens Sinn machen würde im Gegensatz zum Kunstmarkt und dem völlig geisteskranken Samen auf dem Osama-bin-Laden-Foto. In der Ferne flogen einzelne Raketen in den tief hängenden Nachmittagshimmel.
    Paul zündete eine Wunderkerze an und hielt die andere Hand hoch wie zum Schwur: »Ich werde im neuen Jahr die blinde Malerei zu einer begehrten Marke machen. Alle Maler, sogar die erfolgreichen, die natürlich immer weiter Erfolg haben wollen, werden zu mir kommen und behaupten, sie seien plötzlich erblindet. Es wird in Kürze nur noch so wimmeln von erblindeten Erfolgsmalern!«
    Er stand direkt unter den rotbraunen Kronblättern der Rosskastanie, sehr selten im Winter, wie Christina noch bemerkte.
    »Ich stelle mir vor, dass ich mit den marktgierigen Künstlern Blindentests durchführe und sie immer wieder gegen eine Wand laufen lasse, da ich wirklich nur erwiesenermaßen blinde Erfolgsmaler ausstelle. Und obwohl sie die Wand genau sehen in ihrer Verlogenheit, weil sie ja nur vortäuschen, blind zu sein, müssen sie immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand rennen! Vielleicht lege ich dazu sogar Musik auf, bis irgendwann die Wand voller Blut ist von all den verlogenen und gegen die Wand rennenden Künstlern. Dann stoppe ich das Projekt, Kovac schmeißt alle raus, und ich stelle nur die Wand aus, mit einem kleinen Erläuterungstext im Katalog. Mit der blutigen Wand ist ja alles gesagt über die Welt.«
    »Paul, ich glaube, das funktioniert nicht mit deinen blinden Malern im Wedding«, erklärte Christina, »aber ich bin verliebt.«
    Er schwieg und sah auf ihr Küchenmesser.
    »Ich werde dich erforschen«, sagte sie. »Und die Rosskastanien auch, darüber schreibe ich meine Arbeit, über Seifenbaumgewächse. Ich habe mich gerade entschieden.«
    Sie küsste ihn, umarmte dabei das Gewächs mit, an dem Paul lehnte, und er mochte sich in dem Moment sogar selbst, er hätte sich auch geküsst: Wenn er so, wie er eben geredet hatte, immer denken und sein könnte, dann wäre er frei, dann würde er zwischen sich und die Welt so etwas wie einen unverbitterten Stolz schieben.
    »In der Galerie liegt ein Paket«, sagte Christina. »Deine Mutter schickt dir Salat?«
    »So ähnlich, eher symbolisch«, antwortete Paul.
    »Symbolische Pakete mit Salat?«, fragte sie weiter, befremdet. »Aus Lanzarote nach Berlin?«
    »Heute wird ja sowieso alles kreuz und quer herumgeschickt. Meine Mutter spielt gerne Luftbrücke«, erklärte er.
    »Warum macht sie das?«, wollte Christina wissen.
    »Damit ich Salat esse, was denn sonst?«
     
    Er hatte sie im Supermarkt kennengelernt beziehungsweise sich nicht getraut, sie anzusprechen vor der Gemüsetheke, wo sie etwas genauer die Tomaten untersuchte. Als er schon bei den Joghurts war, entschloss er sich. Er lief zu einem dieser Beobachtungsspiegel gegen Diebstahl und betrachtete sein Aussehen. Er legte den Hemdkragen über das Jackett und lächelte; er sollte überhaupt mehr lächeln, dachte er. Seine Grübchen funktionierten, sie passten gut zu den braunen Locken, er sah lächelnd mit Locken so verspielt aus, eher undeutsch, mehr international. Er bemerkte, dass sich das Haar an den Seiten über Nacht verlegt hatte, es stand unförmig und unvorteilhaft ab, vielleicht war es auch dieser Diebstahlspiegel. Er überlegte, ob ein Spiegel mit Weitwinkelwirkung die Haare abstehen ließ, aber dann hätten auch seine Ohren abstehen müssen, standen sie aber nicht. Er lief zur Kosmetikabteilung, nahm eine Forming Cream und schmierte sie sich ins seitliche Haar.
    Sie war immer
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