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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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Prolog vom Ende
    Seine Kindheit, das hatte die Baufirma Brüning auch gar nicht mehr zu beschönigen versucht, würde in der Mitte auseinanderbrechen, eher früher als später, in zwei Teile.
    Der Westflügel, in dem er mit seiner Mutter und ihrer übermächtigen Liebe groß geworden war, mit seinem Großvater, dem Bildhauer, den man den Rodin des Nordens nannte, sowie seiner Großmutter, die jeden Tag norddeutschen Butterkuchen backte - dieser Westflügel des Hauses würde zuerst absacken und im Teufelsmoor untergehen. Dabei würde sich der Ostflügel, in dem der Rest der Familie gelebt hatte, gleichzeitig in die Höhe heben, bis das ganze Haus in der Mitte in zwei Stücke breche. Und dann würde der Ostflügel zurück in den Schlamm fallen und vermutlich früher oder später auch dieser Teil der Familie Kück herabsinken - mit seinen sommersprossigen Johans, den blauäugigen Hinrichs, den Milchkühen und Mördern, dem Schnaps und dem schönen strohblonden Bauernmodell Marie, das noch heute auf dem Bild eines alten Worpsweders wie ein Gespenst erschien.
    »Grundbruch«, flüsterte Paul vor sich hin.
    »Grundbruch« war das Fachwort, das die örtliche Baufirma Brüning für solche Katastrophen benutzte. Solch ein Grundbruch hatte sich nicht zum ersten Mal ereignet hier im Norden, in der Tiefebene, in den sumpfigen Wiesen am Rande des Teufelsmoors, wo früher nur Torfbauern lebten und mit braunen Segeln über Flüsse fuhren.
    Paul stellte einen Stuhl in das Moor und versuchte ruhig zu atmen, während er die schrägen, rissigen Wände betrachtete und den Westflügel des Hauses, der aussah wie der geneigte Rumpf eines Schiffes. Aus der Ferne hörte er eine Kuh, dann eine weitere aus der Nähe, die der anderen Kuh ein paar Wiesen weiter zu antworten schien.
    Er spürte, dass auch der Stuhl, auf dem er saß, versank und zog sein kleines schwarzes Notizbuch aus der Hosentasche, »Paul Wendland« stand auf der ersten Seite und seine Handynummer. Eigentlich hieß er »Wendland-Kück«, aber er nannte sich nur Paul Wendland, weil »Kück« sowieso niemand draußen in der Welt verstand. Er schlug eine freie Seite auf, gleich hinter dem »Halmer-Projekt«. Er schrieb sich all seine Projekte ins Notizbuch, auch die persönlichen Vorsätze, Probleme und ihre möglichen Lösungen; schon seit seiner Kindheit setzte er dem Durcheinander in der Familie Kück und dem allgemeinen Chaos seine Notizen, Listen und Gleichungen entgegen.
     
    Aktuelle Probleme:
    1.  Grundbruch
    Die Toten im Garten (In Bronze gegossene Marie!!!)
    2.   Der Letzte der Kücks liegt im Koma und wird sterben. (Armer Nullkück!)
    3.  Wie noch leugnen, dass der Mann in den Wiesen und im Nachtclub mein Vater war? (Nun kann ich Wendland auch streichen. Jetzt heiße ich nur noch Paul.)
    4. Paul zog mit einem Ruck seine Schuhe aus dem Moor, das wieder gluckste und zischte, als würde man einem seltsamen gierigen Tier die Beute wegnehmen. Er notierte unter die Vater-Thematik: 
    5. Schon wieder nasse, sumpfige Füße. Mein ganzes Leben nasse, sumpfige Füße.
     
    Dann lief er mit seiner Tasche in die Wiesen hinein, die sich weit nach dem Westen hin erstreckten und am Ende mit den Wolken zusammenflossen.
     

Erster Teil
Berlin - Worpswede

Paul lebt in der Stadt und sucht einen Grund
    Paul hielt den Löffel mit dem Zucker in der Hand und starrte durch das Fenster des Cafes.
    Christina, die er seit vier Monaten kannte, war gestern nach Barcelona geflogen, um dort eine Stelle in einem Forschungslabor anzutreten.
    »Komm doch mit, du kannst ja auch da leben«, hatte sie vorgeschlagen.
    »Ich kann nicht nach Barcelona und einfach da leben. Ich muss mich erst hier in Berlin durchsetzen«, hatte er geantwortet.
    Paul drehte sich am Flughafen noch einmal zu ihr um. Irgendwo hatte er gelesen, dass sich die wirklich Liebenden niemals umdrehten oder lange winkten, aber was war dann mit ihm? Er beobachtete durch die Glastür, wie sie bei der Kontrolle ihren Gürtel aufmachte, und stellte sich vor, sie erst in ein paar Jahren wiederzusehen: Sie würde immer noch so schön sein mit ihren dunklen Augen und er sie umarmen und küssen wollen, aber in seiner Vorstellung hatte sie plötzlich Kinder im Arm und einen spanischen Torero oder Juniorprofessor zur Seite mit einer Stechlanze in der Hand. So schnell kann das Leben vorübergehen und man hat die richtige Frau verpasst, dachte er, als er im Bus Platz nahm und ein Flugzeug in den Himmel steigen sah.
    Cafe am Rosenthaler Platz,
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