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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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und erklärte mit einer Hingabe, als ob er soeben die Lösung für Pauls Probleme gefunden hätte: »Paulus!«, er nannte ihn immer »Paulus«, »Abschleppen, Kovac sagt: Abschleppen, die Kunsthändler!«
    »Wie meinst du das, abschleppen?«, fragte Paul, »das sind doch keine Autos, die Kunsthändler?«
    Draußen liefen zwei Kunden vom Brillen-Meyer vorbei. Sie kamen einfach herein, stellten sich vor die Bilder von Tobias Halmer und testeten die Sehqualität von Meyers Gläsern, immerhin sahen sie mit diesen fetten schwarzen Probebrillen aus wie Andy Warhol.
    »Abschleppen, Kidnapping, Mafia diplomacija, nicht böse, Paulus, nur Trick!«, sagte Kovac, er war, seit ihm Paul von den Verkaufsrekorden für Kunst berichtet hatte, wie benommen von dieser Branche. Er staunte wie ein Kind, als er hörte, dass man für ein Osama-bin-Laden-Foto, das ein Künstler an der Oberfläche mit seiner eigenen Samenflüssigkeit bearbeitet hatte, umgerechnet acht Mercedesse kaufen konnte, nur für ein bespritztes Foto von einem Topterroristen. Und für einen eingelegten Hammerhai in Formaldehyd sogar ungefähr hundertsechzig nagelneue Mercedesse!
    »Die Welt ist verrutscht!«, stöhnte er, Kovac sagte sehr oft »verrutscht«, meist schrie er es, wenn er beim Rückwärtsrangieren mit seinem Schrottlader das Eisentor streifte und Paul schuld war, weil er »verrutscht« guckte oder »verrutschte« Winkzeichen gab. Manchmal hörte er, wie Kovac beim Schrauben mit sich selbst schimpfte und er »verrutscht!« aus seiner Schrotthalle fluchte.
    Paul bekam zweimal die Woche neue Exponate, weil Tobias Halmer nicht aufhören konnte, Bilder zu liefern. Auf allen malte er seine Tochter, die bei einem Unfall tödlich verunglückt war. Halmer hatte noch versucht, sie an sich zu reißen in ihrem blauen Kleid für den Kindergeburtstag und mit ihrer Blume in der Hand. Der Lkw stieß durch ihren kleinen Rücken und ihr Vater verletzte sich so schwer an den Augen, dass er seine tote Tochter nicht mehr sehen konnte. Schon gleich nachdem er aus der Klinik entlassen worden war, tastete er sich durch seine Wohnung ins Atelier, hämmerte blind auf Keilrahmen herum, versuchte mühselig Leinwände aufzuspannen und Farben anzumischen, von denen er nicht wusste, welche es waren. In schrecklicher Ungeduld, Hast und Verzweiflung fieberte er dem ersten Bild entgegen. Dann malte er, begann mit dem zweiten; er malte seine Tochter immer und immer wieder und stellte sich vor, wie sie Tag für Tag ausgesehen hätte, so sollte sie weiterleben und älter werden.
    Paul musste schon vierzig Bilder bei Kovac in der Montagehalle lagern, weil er gar nicht wusste, wie er sie alle in seinem Raum hätte unterbringen sollen. Bei ihm hingen fünf, die größten, buntesten, verkaufsträchtigsten. Halmer malte wie ein Besessener, und wenn er die Arme oder Füße zu weit weg vom Körper der Tochter setzte, sagte sein Zivi »weiter nach links« oder »mehr nach oben«, wobei Paul die Bilder am berührendsten fand, die entstanden, wenn der Zivi bereits nach Hause gegangen war. Halmer ließ dann die Farben und Erinnerungen an seine Tochter frei über die Leinwände fliegen.
    Kovac schenkte gerade wieder seinen Schnaps aus dem großen Kanister in die kleinen Gläser ein, ohne dass er dabei etwas überschüttete.
    »Lieber Kovac, kannst du das neue Bild vielleicht auch bei dir lagern?«, fragte Paul. »Ich weiß nicht mehr, wohin damit.«
    »In Ordnung«, antwortete Kovac. »Aber muss endlich Kunsthändler mit Bus abschleppen bis in diese Nummer von Brunnenstraße. Mafia diplomacija, ich hole dir.« Dann kippte er beide Gläser mit seinem Gebräu herunter und atmete tief ein. »Riecht in diese Nummer immer noch wie Waschsalon!«
    »Mafia diplomacija, was ist das überhaupt? Kroatischer Autohandel? Wieso sollte denn ein Kunsthändler etwas kaufen, wenn er vorher unfreiwillig hierher abgeschleppt wurde, der findet das doch nicht witzig«, sagte Paul, ihn strengte das mit dem Kunsthändler-Abschleppen langsam an, bei Kovac wusste man allerdings nie, vielleicht glaubte er wirklich, die Händler zu ihrem Glück zwingen zu müssen. »Und das mit dem Waschsalon verstehe ich überhaupt nicht! Eigentlich müsste das hier jetzt nach Urwald riechen!«
    Pauls Handy piepte, SMS von Christina:
     
    Habe mein zimmer hellblau gestrichen + eingerichtet. Schreibtisch am fenster. Morgen geht's im labor los. Draußen sonne. Leben. Alles so neu, so schön. Man kann ja in barcelona warten, bis der wedding gekommen
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