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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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der Gräben.
    »Neue Abzugsgrippen?«, fragte er und zeigte auf Nullkück, von dem sie nur den Haarschopf sahen und der immer noch grub und grub, ohne dass bisher jemand imstande gewesen war, ihn davon abzubringen.
    »Er sucht seine Mutter. Sie muss hier irgendwo sein. Meine Familie hat sie wahrscheinlich auch vergraben«, antwortete Paul, es war ihm egal, was Brüning dazu sagen würde. Vermutlich würde er sowieso nichts sagen, sondern höchstens noch einmal ruckartig sein Stofftaschentuch hervorholen und die Zeit, in der er darauf hätte reagieren können, wegschnäuzen.
    Ja, hier in diesem flachen Land schnäuzte man grundsätzlich alles weg, was unangenehm zu beantworten war. Die Zeit, in der man hätte antworten oder Dinge ansprechen können, wurde weggeschnäuzt und zwar so lange, bis das Leben längst weitergegangen war, dachte Paul. Und so blieben Enkel und Söhne ohne Antworten und irrten ahnungslos durch die Welt. Und wenn sie etwas finden wollten, dann mussten sie graben und graben und zu graben aufhören, wenn sie es nicht mehr ertragen konnten und ihr Leben ohne die Wahrheit für ruhiger und sicherer hielten.
    Jan Brüning nahm seine Mütze ab und gab Paul die Hand.
    Branko hatte sämtliche Halmer-Bilder auf dem Grundstück verteilt und stieg in den Kovac-Bus.
    »Post!«, rief Goran noch und stellte ein Paket, das vor längerer Zeit bei Kovac abgegeben worden war, neben die Kaffeekanne und den Ziegelstein.
    Kurze Zeit später war die Baustelle geräumt und alle waren weg.
     
    26. April. Paul war das Datum in den Unterlagen der erdstatischen Untersuchung aufgefallen. Hilde hatte früher oft von jenem Tag gesprochen, dem 26. April 1945: Alle Hammebrücken waren gesprengt worden, die Sprengung der Brücke bei Tiedjens-Hütte habe man bis in den Garten hören können und genau das bei ihr die Presswehen ausgelöst. Vielleicht glaubte sie wirklich daran. Kurze Zeit später sei dann Nullkück auf die Welt gekommen und Worpswede gefallen.
    Paul ging in die Küche. Er stand vor dem Rilketopf - auch eine Lüge. Er rührte den Teig an, goss ihn in die Pfanne. Der Buchweizen lief fast heraus, so schief stand der Herd. Paul überlegte einen Moment, ob Gasleitungen offen liegen könnten, während er den Teig anbraten ließ auf mittlerer Flamme. Er hielt die Pfanne leicht schräg, entgegengesetzt zu der allmählich nach außen wegsackenden Küche. Er nahm einen Teller, fand eine Kerze, zündete sie an, ließ das Wachs vorsichtig in die Mitte des Tellers tropfen und drückte die Kerze hinein. Dann drapierte er die fertigen Pfannkuchen um das Kerzenlicht und trug sein Geschenk aus der grundbrüchigen Küche.
    »Alles Gute zum Geburtstag, Nullkück! Es gibt frische Buchweizenpfannkuchen!«, rief er und lief auf den Graben zu. Er sah ihn gar nicht mehr in seinem tiefen Muttergraben. »Ich habe sie drei Minuten von jeder Seite anbraten lassen. Ist das richtig? Ich dachte, ich wäre heute mal dran an deinem Tag. Happy Birthday.«
    Nullkück lag seitlich gekrümmt im Morast. Es sah aus, als würde er versinken. Die Augen waren starr und bewegten sich nicht. Die Hände hielten noch den Spaten.
    Fünf Minuten lang kämpfte Paul damit, Nullkück herauszuziehen. Es war sinnlos. Er rief nach Gerken. Er rief nach Renken. Niemand kam. Schließlich holte er Kisten und Bretter aus den Trümmern der Scheune. Er warf sie in den Graben, sprang selbst hinein. Er fand Halt und zog Nullkück aus dem Moor. Er zog ihn bis zum Bett, das immer tiefer eingesunken war mit den Eisenfüßen.
    Nullkück atmete schwer. Blut lief aus der Nase. Sein Herz schlug schwach.
    Paul rannte in die Küche, nahm das Telefon, das sich auf dem Tisch zum Rand hin bewegte, und wählte den Notruf.
    Die Sonne brach hervor und schien in den Garten. Wie hellblau der Schirm in der Sonne war, dachte Paul. Das himmelsblaue Licht fiel auf Nullkücks Gesicht. Seine Augen waren bewegungslos und starrten auf die Skulptur von Marie.
    Jetzt sah es auch Paul. Die Bronze war an der Seite gerissen - von oben bis unten ein langer Riss.
    Er schaute auf die Seiten der anderen Figuren: Luther, der Rote Franz, Bismarck, Napoleon. Er betrachtete die Seiten seiner Großmutter, keine Risse. Nur bei Marie. Die Naht, die er vor einiger Zeit bemerkt hatte, war nun wie aufgeplatzt.
    Nullkück atmete langsamer.
    Der Krankenwagen würde ungefähr eine halbe Stunde brauchen, hatte es geheißen.
    »Halt durch, Lieber. Bald geht es dir besser,« sagte Paul und drückte Nullkücks kalte Hand.
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