Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
hielt ihren Pinsel wie einen Kochlöffel. Vor jedem neuen Strich, den sie auftrug, presste sie die Zunge auf die Unterlippe und schwang den Pinsel inspiriert nach rechts und links, so als würde der nächste Strich ihrem Bild eine besondere Note verleihen.
    Peter Ohlrogge stand daneben. Die Hände in seiner Windjacke vergraben. Die Schultern zusammengezogen, so als würde er frieren. Ab und zu nickte er mit dem Kopf und versuchte zu lächeln. Manchmal nahm er eine Hand aus der Jacke und hielt sich eine Stelle am Bauch. Wo sah er hin?
    Paul legte das Fernglas weg. So nah wollte er ihm nicht kommen.
    Warum stand er nicht einfach von der Bank auf, lief in die Wiesen und fragte ihn? -
    Ja, und dann? War es nicht überhaupt demütigend zu fragen? Hallo, guten Tag, könnte es sein, dass Sie ...
    Er blieb sitzen. Er hielt sich an der Bank fest. Er würde NIEMALS in die Wiesen laufen und fragen! Wie klein, wie erbärmlich wurde man denn dabei? Und wie alleingelassen mit allem? Es war doch die Aufgabe anderer, dafür Sorge zu tragen, dass man nicht ein halbes Leben später durch die Moorwiesen auf einen fremden Mann zumarschieren musste! Da wurde man von der Mutter bis ins Detail über archaische Gebärhaltungen und die Freiheit ihres Beckenbodens bei der Schrankgeburt unterrichtet, aber WIE ENTSTANDEN?? VON WEM?? Wohl nicht so wichtig!
    Er nahm wieder das Glas und sah hindurch. Der fiebrige Blick, mit dem der Mann durch den Garten seines Großvaters gelaufen war, er wirkte wie erloschen, leer und tot. Der leblose Blick fiel ihm durch das Fernglas geradezu entgegen. Paul setzte es erschrocken ab. Er sprang auf und rannte zurück.
    Ihm schien, er würde auf dem Weg nicht vorankommen und der Sand nachgeben, was nicht sein konnte, sagte er sich, die Wege wurden doch aufgeschüttet, und in die andere Richtung war er ja mit dem Trecker gefahren vor ein paar Tagen - oder waren es Wochen gewesen?
    Er drehte sich um. Ihm war nun, als würde er verfolgt vom leblosen Blick, der ihm durch das Fernglas so nah gekommen war. In der Ferne hörte er wieder die Melodie, die klang, als würden Russen in den Moorwiesen tanzen, die Musik wurde immer schneller, sie schien auf etwas hinauszulaufen. Auf der Hamme-Brücke übersah er einen Heuwagen, der ihn gegen das Geländer schlug. Er versuchte Luft zu kriegen und starrte in den Fluss.
    Konnte das sein? Diese vorbeischwimmende Flasche? Der Hustensaft seiner Kindertage?
     
    Nullkück war bereits bis zu den Schultern in der Erde. Wie schnell er graben konnte! An einigen Stellen waren es schon richtige Grab- oder Schachtsysteme, die er ausgehoben hatte.
    »Lieber, hör bitte auf«, sagte Paul, als er in den Garten zurückkam. »Da ist nichts! Da kann nichts sein! Was soll da sein? Hör bitte auf!«
    Er dachte an das schreckliche Lachen von Bauer Gerken, wenn von Marie die Rede gewesen war; an die unheimlichen Geräusche aus der Tiefe, bevor Brüning die Arbeiten gestoppt hatte. Dann versuchte er Nullkück festzuhalten, doch der hielt ihm den Armreif hin wie etwas, das ihn aufrief zu graben. Und so grub er weiter.
    Paul nahm Brünings Vorschlaghammer und stieg damit über die gefallenen Mauern ins Haus. Er ging auf den Eichenschrank zu. Er schlug mit dem Hammer auf die Halterungen der Stange, an der ihn seine Mutter hängend geboren hatte. Irgendetwas war damit, und warum hatte der Großvater den Butterkuchen fallen gelassen und wie der Tod ausgesehen, als man ihn gefragt hatte, woher die Stange sei? Vorderachse englischer Truppen, hatte er gesagt. Aber was hatte Nachbar Jahn behauptet und damals die Einfahrt zu den Kücks hinunterfahren sehen?
    Die Halterungen brachen aus dem Geburtsschrank und Paul hielt die Vorderachse in der Hand: Englisch oder deutsch? Militär oder Kripo oder sonst was? Die Geburtsachse muss zu Kovac, dachte er und lief wieder in den Garten.
    »Hör bitte mit der Graberei auf!«, er hielt es nicht mehr aus. »Du kannst doch hier nicht deine Mutter suchen? Was willst du denn damit erreichen? Hör bitte mit dieser Graberei auf!«, wiederholte er. »Da ist nur Grundwasser und Schlamm!«
    Nullkück griff schnell in seine Hosentasche und drückte ihm ein Metallstück in die Hand.
    Paul putzte es am Ärmel sauber: Kupfer, rund, eine Marke, Gemeinde-Kriminalpolizei war eingeprägt. Er griff in seine Hosentasche und holte die Marke heraus, die er aus dem roten Haus mitgenommen hatte. Er verglich die beiden Marken, und wieder schössen ihm die Sätze von Malte auf dem Schulhof, das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher