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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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kurz nach acht Uhr.
    Wieder dieses dumpfe Knacken in der Tiefe. Wieder dieses grollende Geräusch, als würde im Bauch eines Schiffes etwas brechen.
    Brüning ließ alle Maschinen stoppen. »Was ist das ...«, sagte er vor sich hin, mit tonloser Stimme. Sein Blick irrte umher und suchte Halt in den Gründungsplänen, bis auch die Hände, die das Papier hielten, von einem weiteren Brechen in der Tiefe zitterten. Die Mitarbeiter standen still, atemlos. Die Erde bebte.
    Nullkück lag im Garten auf seiner durchgelegenen Matratze. Das Bettgestell mit den Eisenfußen war an der Kopfseite in den Moorboden eingesackt. Das geraubte Marie-Bild mit dem vergoldeten Rahmen lehnte am Bett und stand ebenfalls schief. Der Armreif, der auf dem leeren Teller lag, war beim Beben des Moorbodens in Bewegung geraten, er hörte nicht mehr auf zu klirren, so als tanzte er schneller und schneller.
    Es war wieder der Armreif, der alles in Bewegung setzte. Nullkück sprang auf. Er griff nach einem von Brünings Spaten und rannte an die Stelle, wo er das Schmuckstück von Marie gefunden hatte, unweit der alten Scheune, am Rande des Gartens, im Moor.
    Er begann zu graben.
    Brüning kniete auf dem Boden und horchte in eines der tiefen Bohrlöcher hinein. Irgendwann stand er auf und brach alle weiteren Bohrungen ab. Hilfe müsse er holen. Einen Fachmann, einen Experten.
    »Arbeit Ende?«, fragten Goran und Branko, und man erklärte ihnen, dass es vielleicht morgen weiterginge. Sie stiegen zu Brünings Leuten in die Fahrzeuge und ließen sich zur Jugendherberge fahren, die sie vor lauter Wiesen immer noch nicht allein finden konnten.
    Keiner war mehr auf der Baustelle.
    Eine Weile sah Paul auf das Haus.
    War es möglich, dass es plötzlich schief stand? Ihm war, als würde das Haus wirklich zu einer Seite hin abfallen. Vielleicht, sagte er sich, war es nur das schiefe Bett, das absackende Eisengestell, auf dem er saß und von dem aus er das Haus betrachtete?
    Er stand auf. Er trat durch die eingeschlagenen Wände und über Ziegelsteine ins Innere. Er lief in Nullkücks Zimmer, setzte sich an den Computer. Er gab den Namen ein, den er in dem kleinen, roten Haus auf den Rechnungen und Auszügen gefunden hatte: »Peter Ohlrogge«. Enter:
     
    Ergebnisse 1 von ungefähr 1 für Peter Ohlrogge (0,08 Sekunden)
     
    Auf den Spuren der alten Worpsweder. Freilichtkurse von Peter Ohlrogge. April bis Oktober. Malschule Paula. (Anmeldung und Vorauszahlung erforderlich)
     
    Der Bildschirm flimmerte. Das Gehäuse und der alte Tower knackten, so als spannte sich etwas. Paul sah auf den Boden. Unter seinem Stuhl, unter dem Tisch, durch das Zimmer, das nächste, das Eltern-Schlafzimmer, die Diele, das Atelier des Großvaters, durch das ganze Haus: ein Riss, wie ein Spalt. Er sprang auf. Er griff nach dem Fernglas. Von draußen hörte er den Spaten, das Stechen, die Grabgeräusche von Nullkück, der immer weitergrub.
     
    Paul war an den Fluss gefahren und lief hinter der Hammebrücke nach links den Sandweg hinunter.
    In den Wiesen bemerkte er bereits eine Gruppe der Malschule, den Freilichtkurs. Er ging ein Stück auf das alte Worpsweder »Nadelkissen« zu, auch »Liebesnest« wurde der runde, kleine Hügel genannt, mit Pappeln und Holunderbüschen bewachsen, von einer Möwenkolonie bewohnt, umsäumt von Schilf und wie eine Insel zwischen den Flüssen Beek und Hamme. Früher hatte dort eine Hütte gestanden, ein Wirtshäuschen, das nach einem Moorbeben samt Wirtin und ein paar Schnaps trinkenden Torfschiffern versunken war.
    Paul blieb auf dem Weg stehen und sah den Graugänsen nach, die in ihren Staffeln in Richtung Süden flogen. Was Vögel für eine schöne Ordnung haben im Gegensatz zu Familien, dachte er und verfolgte durch das Fernglas zwei klare Linien, die sich vorne in der Spitze trafen.
    Er setzte sich auf eine Bank, »Aussichtsbank« stand auf einem Schild, das musste wieder eine Idee der Touristik GmbH gewesen sein. Warum konnte man es den Menschen nicht selbst überlassen, wie sie die Bank nutzten? Was für ein bevormundendes, dominantes Schild, er hatte schon keine Lust mehr auf Aussicht, das Schild war wie seine Mutter.
    Er nahm das Fernglas und richtete es auf die Malenden. Vorhin waren es drei in den Wiesen gewesen, jetzt sah Paul noch zwei. Eine kleine Malgruppe, dachte er, nur eine alte Frau und dieser Mann, den er bisher für Dr. Rudolph gehalten und auf den er sich am Computer und im Garten eingeschossen hatte. Die alte Frau im Regenmantel
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