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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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der weiterhin zu schrumpfen schien. Mit einem Bild lief er auf die Kühe zu.
    »Seht euch das an!«
    Es tobte, wütete auf der einen Seite und von der anderen zog ein seltsam klinisches Weiß herein, so als würde der Himmel langsam wahnsinnig werden und sich auflösen.
    »Ich habe schon damals alles vorweggenommen, seht euch das an! Das hier ist eine Mischung aus William Turner, Tschernobyl und der Klimakatastrophe! In Worpswede in den Sechzigern entstanden! Malt mal ein Bild, das so wie dieses die Weltlage erfasst!«
    Er hielt den Kühen das Bild hin. Eine sah sogar kauend nach oben, so als vergliche sie das Ozonloch über ihr mit Ohlrogges Werk.
    Er stellte die restlichen vierzig Bilder an den Zaun der Kühe. Dann sah er auf die Uhr.
    Halb fünf, noch eine halbe Stunde!
    Er lief ins Haus und nahm die alten Farbtöpfe, die Teresa sortiert und geschüttelt haben musste, die Farben waren wie angerührt. Jetzt wusste er es wieder, das richtige Mischungsverhältnis! Er sah draußen noch einmal in den Himmel und mischte und mischte und da war er, dieser flirrende Blauton! Er rannte nach draußen und malte schnell den Reichsbauernführer damit an, Ohlrogge kam nur bis zum Bauch, sonst hätte er eine Leiter gebraucht, aber wenigstens etwas moderner sah das Ungeheuer jetzt aus.
    Ohlrogge sprang in die Dusche. Er kam sich in seinem lichtdurchfluteten Badezimmer vor wie in einem mediterranen Urlaubshotel. Er wusch sich überall, unter den Armen, zwischen den Zehen. Er stockte einen Moment, als er sich bückte. Es stach ihn kurz, er fasste sich an den Bauch. Es war doch alles in Ordnung, wo saß denn der Magen? Er sagte sich: die Aufregung. Und außerdem stachen ja auch die Vergangenheiten aus ihm heraus. Er stellte es sich vor wie Schollen, wie Vergangenheitsschollen, die nach Jahrtausenden aus der Vereisung brachen und nun in Richtung Süden trieben, um dort endlich aufzutauen und flirrend blau davonzufließen.
    Er nahm seinen Schwanz und stellte sich vor, wie sie im Club dagelegen hatte: ihre Beine, ihr schönes Gesicht, der hinreißende kleine schiefe Zahn oben links im leicht geöffneten Mund.
    Keine Funktionsstörungen!, nahm er nach einer Minute zur Kenntnis und brach den Vorgang ab. Wer weiß, vielleicht würde sich heute noch etwas ergeben.
    Ohlrogge nahm siebenmal Rasierwasser, reichlich Deo, das Teresa irgendwo gefunden und an den richtigen Platz gestellt hatte. Dann zog er sein rotes Hemd an, die braunen Lederschuhe. Er platzierte zwei Stühle auf die Wiese und eine Sektflasche dazu, die er nach dem Friseurtermin noch auf die Schnelle besorgt hatte.
    Um fünf vor fünf setzte er sich und polierte die Gläser mit seinem roten Hemd, das er lässig über die Jeans fallen ließ.
    Er erhob sich noch einmal aus dem Stuhl, lief ins Haus und legte Rachmaninow auf, mittellaut.
    Er setzte sich und sah auf die Uhr.
    Punkt Fünf. Jeden Augenblick würde sie kommen.
    So viel wie in den vergangenen dreißig Minuten hatte er im ganzen Vierteljahrhundert davor nicht geschafft: Farben mischen. Malen. Duschen. Die Vergangenheit aus der Vereisung aufbrechen lassen. Onanieren. Polieren. Sich selbst und seine Kunst loben. Und Rachmaninow auflegen.
    Er rannte ins Bad und putzte sich die Zähne. Ein bisschen blass fand er sich.
    Er lief zurück nach draußen, stellte ein Bild zur Seite und probierte Handstand an der Wand wie früher. Er zählte bis zwanzig und stellte sich dabei vor, wie das Blut, die Energie und das Leben in seinen Kopf flössen. Nächste Woche beginne ich mit Yoga, dachte er, er wollte schon seit den Achtzigern mit Yoga beginnen und beobachtete die Kuh, die immer noch das Bild mit der Ozonkatastrophe anstarrte. Parallel warf er Blicke zur Straße, ob sein Besuch in diesem Moment vorfahren würde.
    Um zehn nach fünf saß er auf dem Stuhl.
    Er ging erneut ins Haus, nahm das Schuhputzzeug, das jetzt in einem Karton unter der Spüle stand. Er dachte an den Besuch in Lauenburg, damals, als er im Geschäft seiner Eltern die Schuhe seiner Jugendliebe geputzt hatte, auch die ihrer Kinder, Größe 23 und 34.
    Es war halb sechs.
    Mit den Schuhen war er fertig. Den Karton hatte er zurück unter die Spüle gestellt. Frische Sohlen mit Zimt und Zedernholz eingelegt. Seine Hände gewaschen. Und sich wieder in den Stuhl gesetzt.
    Das Wetter hielt sich. Sonne fiel auf das Haus, die Wiesen und Bilder.
    Ohlrogge öffnete den Sekt und hielt die Gläser bereit zur Begrüßung.
     

Muttersuche, Vaterflucht, Amokfahrt
    Es war am Morgen,
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