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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Autoren: Moritz Rinke
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Seine Cordhose war verdreckt und durchnässt. Das Leinenhemd, das all die Jahre gehalten hatte, eingerissen und voller Blut.
    »Du hast dich übernommen, du warst ja nur noch am Graben ...«, er hielt ihm einen Pfannkuchen hin. Er schob ein Stück in Nullkücks Mund, es fiel wieder heraus.
    Wasser, dachte Paul. Er beeilte sich, die Küche zu erreichen, drehte den Hahn auf, doch es gab kein Wasser mehr. Er öffnete den Kühlschrank, und die Milch, die ihm entgegenkam, lief langsam nach Westen ab und vermischte sich mit dem Grundwasser, das in die Küche gestiegen war. Er rannte zurück.
    Nullkück atmete immer langsamer.
    Paul setzte sich auf die Bettkante und zählte die Atemzüge. Wach halten, dachte er, ihm etwas erzählen.
    »Weißt du, dein Brief hat mir so gefallen. Ich meine den, den du früher einmal an Tille geschrieben hast.«
    Er mochte ihn wirklich, auch wenn er etwas umständlich und komisch war. Paul hatte den Sohn von Brüning gebeten, ihm den Brief zu überlassen, der 1972 mit einem Trecker der heutigen Frau des Bauunternehmers zugestellt worden war.
    »Ich wollte ihn dir zum Geburtstag vorlesen ... Hatte ich sowieso vor. Leider ist die Tinte schon blass ...«
    Er sah auf die Uhr. 15 Minuten noch, dann müsste der Notarzt da sein.
     
    Liebe Tille.
    Ich weiß, dass Du die Tochter vom Geffken bist und den Sohn vom Brüning heiraten willst. Ich beobachte Dich schon lang auf dem Kartoffelacker. Deine Brüste sind wie der Vorfrühling, der sich langsam vortastet in seine ersten Liebesträume. Ich wünschte, ich könnte mit in diesen zarten Träumen leben ...
     
    Nullkück röchelte. Die Augen waren ängstlich, fragend, flehend. Er wollte etwas sagen. Zwei oder drei Worte, die er immer am Stück zu bilden imstande gewesen war. Es ging nicht mehr.
    Paul dachte an die Gedankenzüge in Nullkücks Kopf, an seine Sehnsucht nach ganzen Sätzen und langen Reden, die ein Leben lang stumm unter dem Eis lagen und nie hervorkommen konnten.
    Er lief in Nullkücks Zimmer. Die Dielen standen unter Wasser. Die Krüge mit den getrockneten Kornblumen schwammen umher und stießen gegen den Drucker. Die Bilder von den Frauen aus der Region trieben zum Fenster hin. Seltsamerweise funktionierten der klobige Computer und der Bildschirm noch. Paul sah den Eintrag der Malschule mit den Freilichtkursen. Er klickte die Seite weg, darunter lagen der Backe-Plan und der Angriff auf die Sowjetunion. Er fischte die Bilder der Frauen aus dem Wasser und versuchte, eine von Nullkücks Platten aufzulegen. Dann breitete er die Arme aus und nahm den Setzkasten mit den Zinnsoldaten von der Wand.
    Als er aus dem Haus in den Garten lief, knackte, krachte und grollte es erneut aus der Tiefe - und noch lauter als beim ersten Mal.
    Das Foto von Tinchen im gelben Buntfaltenrock erkannte Nullkück nicht mehr. Die Landkarte mit seinen Frauen, die Paul vor ihm ausbreitete, nahm ihm die Sonne, er fröstelte und zitterte.
    Paul griff nach ein paar Zinnsoldaten aus dem Setzkasten und legte sie Nullkück auf die grau verwaschene Bettdecke. Manche ritten hoch zu Pferde und trugen Fahnen und Quasten auf Helmen. Manche marschierten mit geschulterten Gewehren in blauen Mänteln über roten Hosen ...
    Der Krankenwagen fuhr die Einfahrt hinunter. Die Sonne stand über dem Bett.
    Nullkück neigte seinen Kopf zur Seite und sah auf das Haus. Seine Augen lächelten, sanft und aus der Ferne.
    Paul wusste nun, woher er dieses Lächeln kannte. Es war, als lächelte sein Großvater.
    Als Nullkück wenig später in den Notarztwagen geschoben und die Klappe geschlossen wurde, hielt er seine kleinen bunten Soldaten fest in den Händen.
    Paul stand da mit dem Brief an Tille, während der Wagen mit Blaulicht und Sirenen auf dem Damm beschleunigte.
     
    ... Doch leider kann ich nicht halten und Dir einen Haselstrauch schenken, denn der große Sommer naht und ich muss die Felder pflügen.
     
    Nullkück, 1972
     

Finale im Don-Camillo-Club
    Paul hatte das Telefon aus der überfluteten Küche geholt und mit der Verlängerungsschnur in den Garten getragen. Dann hatte er in Osterholz im Kreiskrankenhaus angerufen und erfahren, dass Nullkück in ein künstliches Koma versetzt worden war.
    Er saß bis in den Abend im Garten und sah auf das Haus. Hinter der Westseite fiel die Sonne rot in die Wiesen, was nach der alten Regel der Bauern trockene Luft und gutes Wetter versprach.
    Er wählte die Vorwahl von Spanien und erinnerte sich an das Geräusch von früher, wenn die Scheibe
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