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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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nicht besser sein. Wir stecken zwar noch in der Anfangsphase, aber wir geben uns wirklich alle Mühe und sind so glücklich wie noch nie.«
    »Sehr gut.« Er trank einen großen Schluck Bier. »Dann ist sie also noch nicht dahintergekommen, dass ihr Vater diesen ganzen Quatsch von wegen falsche Erinnerungen bloß getürkt hat?«
    »Was?!« Angesichts dieser ungeheuerlichen Unterstellung klappte mir die Kinnlade herunter.
    »Mir kannst du nichts vormachen«, sagte Gary, den meine Scheinheiligkeit sichtlich anwiderte. »Wir wissen doch beide, dass du die Franzosenschlampe gevögelt hast. Ich erinnere mich noch genau, wie du dich damit gebrüstet hast. Ja, der alte Ron hat erstklassige Arbeit geleistet mit seinen gefälschten Fotokopien und frei erfundenen Psychiatern. Ziemlich schmeichelhaft, dass er sich so viel Mühe gemacht hat, um euch wieder zusammenzubringen …«
    Ein weiterer Dartpfeil prallte vom Brett ab und verfehlte mich nur um Haaresbreite.
    »Du meinst …? Dann habe ich also tatsächlich …?« Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Stand etwa schon wieder alles auf der Kippe? Würde ich es ihr beichten müssen, oder gab es tatsächlich keine andere Möglichkeit, als mit einer Lüge zu leben? Zum Glück brauchte ich mich diesem ausweglosen Dilemma gar nicht erst zu stellen, denn ein paar Sekunden später brach Gary angesichts meiner Schockstarre in brüllendes Gelächter aus und prustete dabei eine nicht unerhebliche Menge Bier über den Tisch.
    »Weißt du, was sich in über zwanzig Jahren kein bisschen verändert hat? Du bist immer noch derselbe leichtgläubige Trottel wie damals, als ich dich kennengelernt habe!«
    »Treffer!«, rief jemand hinter uns.
    »Ah, du müsstest dein Gesicht sehen!«, sagte Gary lachend. Und ich setzte ein gutmütiges Lächeln auf, wobei ich mich derselben Muskeln bediente, die normalerweise zum Schreien vorgesehen sind. Die jungen Dartspieler machten einem alten Mann mit bedenklich dicker Brille Platz, und wir verzogen uns sicherheitshalber an die Theke.
    Am nächsten Morgen in der Schule ließ ich den Lehrplan Lehrplan sein und nutzte die letzte Stunde mit meiner 11 zu einer philosophischen Diskussion. »Also, was meint ihr? Ist alles, was wir dieses Jahr in Geschichte durchgenommen haben, wahr?«
    »Ja, sonst wär’s ja nicht Geschichte.«
    »Und wer bestimmt, was wahr ist?«
    »Wahr ist, was passiert ist.«
    »Oder ist ›Wahrheit‹ vielleicht einfach nur das, worauf sich alle geeinigt haben? Tanikas Brief an die South London Press , in der sie die wahren Umstände der Ermordung ihres Vaters schildert – und der große Artikel, der daraufhin erschienen ist –, dieser Brief hat die offizielle Geschichte verändert, nicht wahr, Tanika?«
    »Ja, und wir pflanzen einen Baum zu seinem Gedenken. Wollen Sie dabei sein, Sir?«
    »Es wäre mir eine Ehre.«
    Vor einem halben Jahr hätte ein solcher Wortwechsel Pfiffe und höhnische Bemerkungen à la »Tanika liebt Kloputzer Vaughan« nach sich gezogen, aber dieses Stadium hatten sie offensichtlich überwunden.
    »Es ist alles eine Frage der Wahrnehmung, versteht ihr? Wenn im Wald ein Baum umfällt, und niemand hört es, macht der Baum dann ein Geräusch?«
    Darüber dachten sie eine Weile schweigend nach.
    »Ist Tanikas Baum schon umgefallen?«
    »Nein, Dean. Etwas mehr Konzentration, wenn ich bitten darf. Die Frage ist, passiert etwas von ganz allein, oder passiert es nur, weil wir es wahrnehmen?«
    »Vielleicht hätte sie einen kleinen Zaun oder so um den Baum ziehen sollen.«
    »Manchmal glauben wir, uns an etwas erinnern zu können, obwohl wir es in Wahrheit erfunden haben, weil uns die fiktionale Erinnerung genehmer ist. Gleiches gilt für die Geschichte …«
    »Nee«, fuhr Dean dazwischen, »weil in Geschichte kann ich mich nie an was erinnern.«
    »Wir betrachten alles, was uns widerfährt, ob bewusst oder unbewusst, durch unsere eigene Brille. Und das Gleiche gilt für Länder, Regierungen und jeden Einzelnen von uns …«
    »Was – auch Wikipedia?«
    »Ja, auch Wikipedia, so unglaublich es klingt.«
    »Dann ist alles, was Sie uns dieses Jahr beigebracht haben, am Ende bloß ein Haufen Schwachsinn?«
    »So drastisch würde ich das nicht ausdrücken. Ich will damit nur sagen, dass Geschichte nicht unbedingt das widerspiegelt, was tatsächlich passiert ist. Geschichte ist … nun ja, Geschichte ist letztlich immer auch Geschichtsklitterung.«
    An diesem Abend saßen Maddy und ich auf der hölzernen
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