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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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Anruf der extrem gereizten Hebamme erhalten hatte, der Gary offenbar nichts recht machen konnte. »Machen Sie gefälligst die Zigarette aus!«, hatte sie ihn angeschnauzt. »Wir sind in einem Krankenhaus!«
    »Das ist keine Zigarette, sondern ein Joint. Zu diesem besonderen Anlass …«
    Doch unglaublich, aber wahr, jetzt war das Baby da. Maddy und die Kinder kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
    »Ist das nicht fantastisch, Jamie? Ein neuer, kleiner Mensch, mit einem noch völlig unverstellten Blick auf die Welt …«
    »Ja!«, rief Jamie begeistert, ohne von seinem Display aufzublicken. »Neuer Rekord!!«
    Ich blickte in die glasigen Augen des Babys und verspürte so etwas wie eine vage Seelenverwandtschaft mit diesem kleinen Neuankömmling. Ich verstieg mich zu der Behauptung, das Kind habe die Augen seiner Mutter und das Kinn seines Vaters. Zwar konnte ich in dem zerknitterten, roten Gesichtchen keinerlei physische Ähnlichkeit feststellen, aber so etwas sagt man nun einmal, und niemand machte sich die Mühe, mir zu widersprechen.
    »Weißt du noch, wie du unsere beiden das erste Mal auf dem Arm gehabt hast?«, fragte Maddy.
    »Gott, ja, das werde ich nie vergessen …«
    »Nie wieder vergessen«, rief Jamie dazwischen, ohne aufzublicken.
    Linda nahm die Kleine wieder an sich, um sie zu stillen, und da ich nicht recht wusste, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte, sah ich zu Gary und fragte ihn, ob er vorhabe, nachts aufzustehen und dem Kind das Fläschchen zu geben.
    »Kommt drauf an, wie viel Milch Linda produziert. Wir wollen auf Säuglingsnahrung weitgehend verzichten, denn seien wir ehrlich, was gibt es für Baby Besseres als die Brust?«
    »Er hat ›für Baby‹ gesagt«, dachte ich. Ohne bestimmten Artikel. Jetzt hat’s auch ihn erwischt. Und als kurz darauf eine attraktive Krankenschwester ins Zimmer kam, um Lindas Werte zu kontrollieren, wandte Gary den Blick keinen Millimeter von seiner Frau und seiner Tochter.
    »Soll ich Baby mal nehmen?«, fragte Gary.
    » Das Baby«, verbesserte Jamie.
    Da fiel mir etwas ein. »Ach, wir haben ja noch ein Geschenk für euch.«
    »Das wäre doch nicht nötig gewesen …«
    »Erst wollten wir einen Stern nach ihr benennen lassen, aber das ist erstens ziemlich teuer und zweitens purer Nepp.«
    »Es sei denn, ihr macht es umgekehrt und nennt das Baby einfach Beta J153259-1.«
    Linda schüttelte den Kopf, dieser Name gehörte anscheinend nicht zu ihren Favoriten. Gary riss das Papier auf, und zum Vorschein kam ein persönlicher Stammbaum der Familie mit diversen Fotos von den Eltern und Großeltern des Babys. Es fehlte nur noch ein Bild der Kleinen.
    »Wow – ich werd verrückt! Das ist wirklich lieb von euch.«
    »Na ja, nach allem, was ihr in den letzten Monaten für uns getan habt …«
    »Vergiss es. Entschuldige, ich meinte natürlich: ›Nicht der Rede wert‹ … Wahnsinn – mein Urgroßvater war auch Computerspezialist!«
    »Im Ernst?«, sagte Linda.
    »Nein – hier steht, er war Tuchhändler. Woher wissen die das alles?«
    »Aus dem Nationalarchiv.«
    »Oder sie denken sich einfach irgendetwas aus und hoffen, dass man es nicht überprüft«, witzelte Maddy, und wenn man es recht bedachte, war das durchaus möglich.
    »Es ist eigentlich ein Geschenk für die ganze Familie«, fuhr ich fort. »Man muss die eigene Geschichte kennen. Woher man kommt, was früher war … schließlich hat sie einen nachhaltig geprägt.«
    »Ist das ein Foto aus deiner Studienzeit?«, fragte Linda ihren Mann. »Und wer ist die blonde Tussi, die dir schöne Augen macht?«
    »Äh, die Bilder kann man natürlich austauschen«, setzte Maddy hastig hinzu.
    Wir ließen Gary und Linda mit der traurigen Erkenntnis, dass keiner ihrer Vorfahren mit der Titanic untergegangen oder wegen Pferdediebstahls gehängt worden war, allein und fuhren nach Hause.
    Nach Maddys Rückkehr war im Hause Vaughan rasch wieder der Alltag eingekehrt. Die Kinder waren leicht genervt, weil ihre Eltern sich auffallend große Mühe gaben, nett zueinander zu sein, und schrien jedes Mal »Nicht schon wieder!«, wenn wir uns auch nur umarmten. Doch im Grunde ihres Herzens waren sie, glaube ich, ganz froh, Vater und Mutter um sich zu haben, die sie in einem fort ermahnten, endlich den Computer auszuschalten und ihre Hausaufgaben zu machen, und ihnen befahlen, ihr Zimmer aufzuräumen, den Tisch zu decken, mit dem Hund Gassi zu gehen und ihre schmutzigen Sachen in den Wäschekorb zu werfen. Leider war den
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